Claudius Bombarnac
Himmlischen Reiche die Bevölkerung sehr schnell, jedenfalls schneller als die Bauten aus ihren Ruinen wieder erstehen. Auch Su-Tchen ist innerhalb seiner doppelten Mauer wie in den anliegenden Vororten wieder recht volkreich geworden. Der Handel steht in voller Blüthe, und bei einem Gange durch die Hauptverkehrsstraße bemerkt man eine große Menge reich ausgestatteter Läden neben vielen wandernden Händlern, die ihre Waare feilbieten.
Hier sahen Herr und Frau Caterna auch zwischen den Einwohnern, die mehr aus Furcht als aus Ehrerbietung zur Seite wichen, einen Mandarinen zu Pferde vorüberkommen, dem ein Diener mit fransenverbrämtem Sonnenschirm, dem amtlichen Zeichen der Würde seines Herrn, voraustrabte.
Eine weitere Merkwürdigkeit verdient schon allein den Besuch von Su-Tcheu: hier endet nämlich die bekannte Große Mauer des Himmlischen Reiches.
Erst südöstlich nach Lan-Tcheu verlaufend, wendet sich diese Mauer darauf mehr nach Nordost und überzieht die Provinzen Kian-Su, Chan-si und Petchili bis nach dem Norden von Peking. Hier besteht sie nur aus einer Art Erdwall, der von einzelnen Thurmbauten überragt wird, an vielen Stellen aber längst verfallen ist. Ich hätte meinen Beruf als Berichterstatter zu verfehlen gefürchtet, wenn ich nicht wenigstens den Anfang dieses Riesenwerkes begrüßte, das alle neueren Vertheidigungsanlagen so ungeheuer übertrifft.
»Hat denn diese Chinesische Mauer auch einen thatsächlichen Nutzen? … so fragt mich Major Noltitz
– Ob für die Chinesen, weiß ich nicht, hab’ ich geantwortet; jedenfalls aber für die politischen Redner, denen sie als beliebter Vergleich dient, wenn sie ein Langes und Breites über Handelsverträge sprechen. Was sollte ohne jene Mauer denn aus der legislativen Beredtsamkeit werden?«
Dreiundzwanzigstes Capitel.
Unseren Kinko hab’ ich nun seit achtundvierzig Stunden nicht wiedergesehen und auch beim letztenmale nur einige Trostesworte mit ihm wechseln können.
In der kommenden Nacht werd’ ich mich bemühen, zu ihm vorzudringen, da ich mich auf dem Bahnhofe von Su-Tcheu mit frischem Proviant für den armen Kerl versorgt habe.
Wir sind um drei Uhr abgefahren. Unsere Wagenreihe wird jetzt von einer kräftigeren Locomotive gezogen. In dem hügeligen Lande hier kommen zuweilen recht steile Steigungen vor. Siebenhundert Kilometer trennen uns von der bedeutenderen Stadt Lan-Tcheu, wo wir – bei einer Geschwindigkeit von zehn Lieues (fast 39 Kilometer) in der Stunde – vor morgen Vormittag nicht eintreffen können.
Ich bemerke gegen Pan-Chao, daß diese mittlere Fahrgeschwindigkeit doch eine recht geringe ist.
»Ja, ich bitte Sie, antwortet er, Wassermelonenkerne zerbeißend, Sie werden nicht und überhaupt nichts wird im Stande sein, das Temperament meiner Landsleute umzuändern. Wie sie an allem Hergebrachten hängen, werden sie auch, trotz aller Fortschritte des Verkehrswesens, an dieser mäßigen Geschwindigkeit starr festhalten. Schon daß das Reich der Mitte überhaupt Eisenbahnen besitzt, Herr Bombarnae, kommt mir fast unglaublich vor!
– Darin widerspreche ich Ihnen nicht, hab’ ich erwidert, doch wenn man sich einmal Eisenbahnen leistet, geschieht es doch, um sich alle Vortheile, die sie bieten, zunutze zu machen.
– Bah! stieß Pan-Chao nachlässig hervor.
– Schnelligkeit, fuhr ich fort, ist gewonnene Zeit, und gewonnene Zeit …
– In China giebt es keine ›Zeit‹, Herr Bombarnae, für eine Volksmenge von vierhundert Millionen Menschen kann es keine geben. Es bliebe für den Einzelnen zu wenig davon übrig. Wir rechnen ja auch nicht nach Tagen und Stunden, sondern nur nach Monden und Wochen …
– Was mehr poetisch als praktisch ist, antwortete ich.
– Praktisch, Herr Reporter! Wahrlich, Sie Abendländer führen immer nur dieses Wort im Munde! Praktisch sein bedeutet, Sclave der Zeit, der Arbeit, des Geldes, der Geschäfte, der Welt, andrer Menschen und seiner selbst zu sein. Ich gestehe Ihnen, während meines Aufenthaltes in Europa – der Doctor Tio-King wird es bestätigen – bin ich niemals praktisch gewesen, und jetzt, nach Asien heimgekehrt, werd’ ich es erst recht nicht sein. Ich denke, ›mich leben zu lassen‹, nichts weiter, so wie die Wolke sich vom Winde, wie der Strohhalm vom Strome, der Gedanke sich von der Phantasie forttragen läßt.
– Ich sehe schon, bemerke ich, man muß China nehmen, wie es eben ist ….
– Und wahrscheinlich immerdar sein wird, Herr Bombarnae. O, wenn Sie
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