Claustria (German Edition)
sich der Saal, die Sterne fangen andere Strahlenbündel auf, man vergisst Angelika. Die Jahre des Ruhmes vergingen wie ein einziger Augenblick. Sie sitzt auf einem Plastiksessel in einer Landschaft, wo der Staub vom Himmel fällt und die Spinnweben an den Ästen der kahlen Bäume weiß überzieht. Sie hat nicht einmal mehr die Kraft, mit dem Kopf zu wackeln, die Anonymität hat sie altern lassen wie eine Chemotherapie.
Sie schlägt die Augen wieder auf. Wechselnde Helligkeit der Fernsehbilder. Ein Getöse von Aufzieh-Hasen, die auf ihre Trommeln schlagen, bis ihre Batterien leer sind, der Markenname ist auf das Metall gemalt und erscheint auf dem Rücken der Hasen. Angelika erinnert sich lange nicht an das Konzert, das sie gab. Selbst Nina Hagens Auftritt ist aus ihrem Gedächtnis verschwunden.
Sie robbt aus dem Unterschlupf hervor, zieht vorsichtig die Kinder heraus und legt sie aufs große Bett. Sie nimmt die Fernbedienung, und als sie diese Macht in Händen hält, verspürt sie dieselbe Freude wie am vergangenen Tag. Sie schaltet den Apparat ab, aus Furcht, er könne ermüden und vor Erschöpfung kaputtgehen.
Sie geht die Küche aufräumen. In ihrer Gefangenschaft ist sie ordentlich, pedantisch geworden. Ständig wischt sie, putzt sie, schrubbt den Boden wie ein Schiffsdeck. Sie kämpft gegen diese Schicht aus schwarzer Erde, die zwischen den Deckenlatten hindurchfällt und sich ständig wieder neu bildet. Angelika träumt von Scheibenwischern, die ihr helfen, die Erde zu vertreiben, von einem elektrischen Scheuertuch, das, wie sie felsenfest meint, früher einmal ein fliegender Händler auf dem Hauptplatz von Amstetten angepriesen hat.
Der Haushalt ist eine wunderbare Fügung, diese Arbeit, diese Beschäftigung vertreibt die Langeweile. Sie nimmt sauberes Geschirr aus dem Schrank und spült es nochmals. Der Duft eines neuen Spülmittels auf Papaya-Basis, das so grausam zu Schmutz ist, dass sein Erfinder es Attila nannte. Es vernichtet die Mikroben, deren Kadaver Angelika mit dem Bauch nach oben durch den Abfluss verschwinden sieht.
Sie hasst jede raumgreifende Unordnung. Der kleinste Gegenstand auf dem Boden löst bei ihr einen Anfall von Klaustrophobie aus. Die wenigen Tassen, die drei Steingutschalen, die fünf nicht zusammenpassenden Gläser, die umgedreht auf dem Regalbord stehen, werden alle Augenblicke mit einem feinen Tuch poliert, als wären es Figuren aus Meißner Porzellan.
Sie sammelte die Fetzen des Goldpapiers auf. Einige waren noch so groß, dass man die eingerissenen Ränder abschneiden und daraus Vierecke, Dreiecke und Rechtecke, so schmal wie eine Eintrittskarte, machen konnte. Angelika breitete sie auf dem Tisch aus und strich sie mit dem Fingernagel glatt. Das Gleiche würde sie mit den leeren Zuckerlsäckchen machen. Nachdem sie mit dem feuchten Finger die letzten Zuckerkristalle aufgetupft hätte, würde sie die Weihnachtsmänner aus der Packung ausschneiden.
Relikte, eine Sammlung geheimnisvoller Indizien in einem Karton. Sie hätten ganze Generationen von Archäologen vor ein Rätsel gestellt, hätte ein Forscher einer ferneren Zivilisation den Keller mit den Gebeinen des Volkes entdeckt und ihn für ein Häuschen gehalten, begraben unter einer Naturkatastrophe, die der Erde einen Teil Europas entrissen hatte.
Zurück im Schlafzimmer, setzte sie sich im Kostüm vor den Fernseher. Sie wachte über ihn wie über ein krankes Kind, achtete auf Fieber, horchte regelmäßig sein Gehäuse ab. Er war heiß, sie schaltete ihn aus, er kühlte ab. Bei den acht Grad Celsius Raumtemperatur wurde er schnell ganz kalt.
Hätte er einen Mund gehabt, hätte Angelika ihm ein Butterbrot gestrichen, damit er zu Kräften käme, und sie hätte ihm einen Kuss auf die Lippen gedrückt. Ein Fernseher ist zwar kein Ehemann, aber für Singles ist er ein gesprächiger Freund, der immer Geschichten zu erzählen weiß, auch wenn er immerzu redet und einem nie zuhört.
Angelika ließ ihn eine Weile ausruhen. Als sie ihn wieder anschaltete, kamen ihr die Bilder noch schöner vor, die Wirklichkeit noch deutlicher, die Farben noch brillanter als die in ihrer Erinnerung bereits matt gewordenen Farben von zuvor. Sie stellte ihn lauter – sanfte Stimmen, süß wie Zuckerl, säuerlich wie ein Tropfen Zitrone, heiser und rau vom Alkohol, vom Fest oder tönend, dröhnend wie diese Stimmen, die einem Zuversicht für die Zukunft einflößen, das rosige Leben, das hinter der Straßenecke auf einen wartet.
Angelika merkte,
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