Claustria (German Edition)
dass Fritzl gelogen hatte. Er war am Abend vor Silvester gekommen. Nun war nämlich später Nachmittag, der Lichterschmuck wurde gefilmt, die Kunden, die dicht gedrängt vor den Auslagen der Metzgereien und Konditoreien standen. Mastgänse drehten sich fröhlich auf dem Spieß über dem Feuer und wurden von den Leuten beim Schlangestehen auf der anderen Seite des Schaufensters betrachtet.
Angelika verbrachte die ganze Nacht und den nächsten Morgen vor dem Fernseher und schlang das Jenseits des Kellers begierig in sich hinein. Auch wenn die Bilder nicht schnell genug liefen, auch wenn Angelika am liebsten mit beiden Händen aus dem Vollen geschöpft hätte, anstatt gefüttert zu werden wie ein Vögelchen.
Martin hatte Angst vor Wörtern, vor dem Geräusch des Regens, des Donners, der Wellen des Atlantischen Ozeans, des Nordwinds, der Jingles, die genauso brüllend laut waren wie die Schreie seines Vaters. Seinem Gehirn gelang es noch nicht, die Bilder zu entschlüsseln – so wie bei Menschen, die von Geburt an blind sind und nach einer Operation zum ersten Mal sehen. Der Fernseher war wie das Maul des Drachens, den Angelika den Kindern einmal auf eine Nudelpackung gemalt hatte.
Petra hatte die Kinder vergessen, die am Strand entlanggerannt waren. Nun machte der Fernseher auch ihr Angst. Zu viele unbekannte Dinge, bedrohliche Landschaften, vorbeiziehende Leute – laut redend, brabbelnd, singend, schreiend oder schweigend wie eine Drohung.
Nach und nach gewöhnten sie sich daran. Sie zähmten den Bildschirm, den Lautsprecher und merkten im Lauf der Zeit, dass Menschen und Tiere mit dem Kopf an die Scheibe schlugen, die diese Kreaturen daran hinderte, sich auf sie zu stürzen.
Das österreichische Fernsehen brachte eine Rückblende auf das Jahr 1991. Einige Schauspieler und ein Politiker waren gestorben, am schwedischen Hof war eine Prinzessin zur Welt gekommen. Kein Vorfall aber war so spektakulär, dass er die Ereignisse im Spätherbst 1989 toppen konnte.
Es gab wieder einmal eine Sendung über den Fall des Eisernen Vorhangs, der die Einschaltquoten grundsätzlich in die Höhe trieb. Angelika sah, wie die Berliner Mauer fiel, sah die Begeisterung, die Freude der Leute, zuhauf kletterten sie durch die Breschen, die die Ostdeutschen unter wüstem Geschrei in die Mauer schlugen.
Und plötzlich hört die Rückblende auf, ein rasender Nachspann, Namen ziehen vorüber, ohne dass man Zeit hätte, sie zu lesen. Wie ein Hackbeil fällt ein Fest in den Bildschirm. Männer im Smoking, Frauen im Abendkleid, Kinder in Sonntagskleidern. Ein lachendes Moderatorenpaar auf der Bühne eines alten Variététheaters. Kurzer Countdown.
,,Drei, zwei, eins …“
Und das Publikum grölt: ,,1992!“ Konfetti fällt vom Schnürboden, Champagner spritzt wie Schaum aus Feuerlöschern. Das neue Jahr, das jedes Jahr kommt. An jedem 31. Dezember könnte man dieselben Bilder senden, nur in die Tonspur müsste man jeweils die neue Jahreszahl einsetzen.
Angelika fing an zu zählen. Sie wurde sich bewusst, dass sie seit siebeneinhalb Jahren eingesperrt war. Mehr als 2700 Tage. Sie dachte, sie wäre noch nicht einmal vier Jahre unter der Erde.
Sophie wurde an einem Septemberabend 1991 während der letzten Hitzeperiode des Spätsommers gezeugt und Anfang Mai 1992 geboren. Die Empfängnis war schmerzhaft gewesen, Fritzls Glied hatte Angelika nach einem Objekt penetriert, das sie wundgescheuert hatte. Kurze Schwangerschaft, die Geburt hatte kaum eine Viertelstunde gedauert. Ein leichter Körper, ein Mädchen wie aus Kork war nach sieben Monaten aus dem Bauch der Mutter gekommen, einer Mutter mit spärlicher Milch, die Sophie oft ausspuckte.
Sophie tat sich schwer mit dem Wachsen. Ihr Vater glaubte an sie.
,,Sie wird’s schon schaffen.“
Nach anfänglichem Chaos vollzieht sich das Wunder. Sophie bekommt Pausbacken, sie liebt das Leben. Ein wundervolles Mädchen. Dunkelblaue, tiefblaue Augen, blau wie das offene Meer. Angelika sagte voraus, dass Sophie eine fatale Schönheit werden würde. Ärztin, Lehrerin, Ministerin.
Sie wurde ein lautes Kind, ihr Gebrabbel, wie das einer zukünftigen Sängerin, stach in die Ohren wie eine Nadel. Je größer sie wurde, desto mehr schimpften die Mieter und zogen aus.
Mit neun Monaten entriss Fritzl sie eines Morgens ihrer Mutter. Angelika wickelte sie gerade auf dem Bett. Er nahm das Mädchen splitternackt mit und lief mit ihr durch das eisige Labyrinth. Es ging alles so schnell, dass Angelika es gar
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