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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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verteilt, die, erschöpft vom Hunger, nicht mehr spielten. Sie mussten diese Luft atmen, in der sich immer mehr Ausdünstungen sammelten: Koch- und Essensdünste, der Geruch der Bewohner und der Toilette, in der sich die Exkremente häuften – ein gesättigter Gestank, der so langsam an die Stelle von Sauerstoff trat.
    Ein so hartnäckiger Gestank, dass man ihn elf Monate danach noch in das Landesgericht St. Pölten befördern konnte.
    ,,Wir lassen nun eine Schachtel herumgehen, in der im Keller die Farbstifte aufbewahrt wurden. Ich bitte Sie, sie zu öffnen und daran zu riechen.“
    Die Geschworenen stecken ihre Nasen hinein. Einige werden bleich, ein junger Mann mit Brille springt auf und rennt hinaus, um sich zu erbrechen. Ein nie gekannter Geruch von einem eigenen Planeten.
    Angelika war eine gefangene prähistorische Frau: in ihren Eindrücken, ihren Gedanken, ob sie nun vernünftig oder ganz abwegig waren, in ihren Gefühlen, ihren jähen Überspanntheiten, auch in Bezug auf die Dunkelheit in ihr, die sich auf den Keller senkte, selbst wenn das Licht brannte oder die Augen eines Siegers leuchteten, den man am Tag nach seinem großen Gewinn im Fernsehstudio interviewte.
    Nachdenken in Dunkelheit, die Erinnerungen an die Farben der Liebe steigen auf wie Lava, leuchtend, glühend, und der laute Schall von Thomas’ Worten, die nach Zukunft klangen, nach Morgenrot, nach immerwährender Jugend, laut lachend noch in der Reife, im Alter, im Tod, diesem Sumpf, in dem sie nie verfaulen würden wie alle Menschen auf der Welt.
    Als Angelika wieder an die Erdoberfläche kam, gewann sie den Eindruck, dass die Leute den Großteil ihrer Zeit im Saft eines archaischen Körpers zögen wie in einer kleinen Maschine, die man nach den Pflanzen, den Bakterien, den Würmern erfunden hatte. Wie Fische ruhten sie in ihrem Kopf hinter den runden Augen zwischen den Ohren. Im Inneren der Gehirne herrschte noch immer Steinzeit.
    Einsamkeiten, Gedankenknäuel, zusammengeknüllte Ängste, Schwämme, vollgesogen mit Freude, Lust, Plänen, Morgen. Eingeschlossenes Leben – selbst draußen, wo jeder denkt, er sei Teil seiner Zeit. Kleine Besitzer einer Parzelle uralter Zeiten, die Ära um sie herum wie eine Kulisse, ein Kleid, gewoben aus optischen Fasern, das sie für ihre Haut, für ihr Fleisch auf den Knochen halten.
    Manchmal dachte Angelika im Keller lauter als sie sprach. Gedanken ohne Sätze, Philosophie vom Anbeginn der Zeiten, die Sprache, der Gedanke erstarrt in Sätzen. Die begrenzten Überlegungen der Sprechenden. Worte wie Hindernisse, der Verstand legt sie in Ketten.
    Die Schädelkiste in der Kiste, die Kiste unterm Haus, die große Kiste des Universums, schwarze Löcher, sternfunkelnde Löcher, Kiste ohne Wände. Es ist keine Kiste mehr, aber irgendwo, irgendwann hört die Unendlichkeit auf, und dort unten, sagte sie sich, sei sie sicherlich von Mauern umschlossen.
    Ende August brachte Fritzl den Fernseher wieder.

Monate, Jahre. Der Alltag beginnt immer wieder neu und summiert sich. Die Erinnerung verliert sich in der Wiederholung der Tage, findet keine Schubladen mehr, um sie aufzuräumen, streckt die Waffen. Angelika kann die Vergewaltigungen, die Ängste, die Hungerperioden nicht mehr auseinanderhalten, die Geburten haben etwas Vertrautes.
    Der Keller machte die Kinder hässlich, weil er ihnen Luft und Licht entzog, als wären sie Champignons, die sechs Fuß unter der Erde auf einem Mistbeet sprossen. Auf die Kinder von oben war Fritzl stolz, auf ihre gebräunte Haut, ihre sportlichen Leistungen.
    Er brachte Fotos mit in den Keller, deren Farben lebendiger waren als in Wirklichkeit: Sabine beim Skifahren im Pflug; Sophie, goldbraun wie warmes Brot, springt in den Pool; Julius auf dem Familiendreirad, auf dem seine Mutter im Alter von zwei Jahren alle Geschwindigkeitsrekorde gebrochen hatte.
    Er mutete Angelika sogar Bilder des Hauses zu, um ihr zu zeigen, wie weiß es unter der Sonne war, seit er es frisch verputzt hatte. Fotos der Terrasse, die er gebaut hatte, nachdem er einen Teil des Dachstuhls abgerissen hatte. Bilder eines Familienessens, auf dem alle lächelten, als er auf den Auslöser drückte. Und Christof wie ein Affe auf dem Dach, um den Kamin freizumachen, der von einem Krähennest verstopft war.
    ,,Steigt der Rauch wirklich zum Himmel auf, Mama?“
    ,,Gibt es Regale, um aufs Dach zu klettern?“
    ,,Hat sie keine Angst, im Schnee zu ertrinken?“
    ,,Warum ist das Haus weißer als die Badewanne?“
    ,,Werden

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