Claustria (German Edition)
durch Haus und Garten und die Nachbarschaft.
Verschüchtert waren Martin und Petra davongetrabt. Sie kauerten sich auf das höchste Regalbrett in der Speisekammer. Zwei Leiber mit Adidas -T-Shirts, ein dicker Knäuel mit zwei Logos, als hätte der Werbechef beschlossen, bis in die letzte Ritze vorzudringen, weil er dachte, selbst Maulwürfe kommen manchmal aus ihren Löchern und können auf den Feldern im Vorbeihuschen die Marke bewerben.
Als ihr Schrei verstummte, schlug sie mit einer Pfanne an die Rohre. So heftig, dass der Stiel brach. Doch die Strafe folgte schon – Strom und Wasser wurden abgestellt. Wäre die Angst ein Leuchtmittel gewesen – ihre Gehirne hätten die ganze Stadt erleuchtet, das Licht wäre durch die Mauern auf die Straßen gedrungen und hätte die Passanten geblendet, die unter den weißen Wolken eines Frühsommertages unterwegs waren.
Verstört irrten Petra und Martin um Angelika umher, sofern sie nicht eng umschlungen auf dem Boden schliefen wie Welpen. Ihre Nase übernahm die Funktion der Augen. Sie nahmen den Körper ihrer Mutter wahr, wenn er sich bewegte, plötzlich verharrte, wenn sie sich an die Stirn fasste, als hätte sie Kopfschmerzen oder als dächte sie über das Essen nach, das sie nun gleich tastend aus einem Rest Schinken und rohen Eiern zubereiten würde. Die Mahlzeit würde sie auf den ausgeschalteten Kochplatten servieren, um den Tisch nicht damit vollzustellen.
Auch Angelika entwickelte langsam die Fähigkeit zu olfaktorischem Sehen. Als verströmte jede Pore ihrer Haut ihren eigenen Geruch, kam es ihr so vor, als sähe sie die Kinder, ihre Körper, ihre Gesichter ganz genau.
Manchmal vergaßen sie die Dunkelheit auch und wurden wieder ganz normale Kinder. Sie rannten hintereinander her, stießen fröhlich Schreie aus, stritten brüllend, rempelten gegen Möbel, zerschlugen eine Tasse, kippten die Nachtkästchenlampe um. Angelika schimpfte, die Schläge erreichten immer ihr Ziel. Und wenn sie die Kinder in der Speisekammer in die Ecke stellte, hörte sie selbst im Bett liegend das leiseste Geräusch, wenn die Kleinen die über dem Kopf gekreuzten Hände herunternahmen, um ihre schmerzenden Arme zu entlasten.
Ihr Gehör war noch schärfer geworden als ihr Geruchssinn. Sie verfolgte alle Gespräche der Leute oben im Haus. Sie wurde wütend, dass man nicht auf ihre Bemerkungen einging, wenn sie ihre Ansichten zu äußern wagte.
Den Keller kannte sie auswendig. Sie wusste ganz genau, wo jeder einzelne Gegenstand war, und nahm ihn, ohne zu zögern, so entschlossen und zielsicher, als würde sie ihn sehen. Nur die Lebensmittel hätten sich nun noch auf Beschluss des Heiligen Geistes vermehren müssen, damit sie weiterhin ganze Jahre in dieser Hölle ohne Feuer, ohne Flamme, ohne Licht hätten leben können. Eine im Garten vergrabene Kiste, in die man drei Kartoffelkäfer gesperrt hatte.
Fritzl ließ sie sechs Tage ohne Wasser in der Dunkelheit schmoren. Seit Jahren schon hatte Angelika die Angewohnheit, Marmeladen-, Gurken- und Senfgläser aufzubewahren und sie mit Wasser zu füllen für den Fall, dass Fritzl es abstellte. Wenn die Gläser leer waren, schöpfte sie Tasse um Tasse aus der Wasserspülung und aus der Kloschüssel. Sie litt darunter, nicht duschen zu können. Die Kinder rieb sie mit einem feuchten Handtuch ab, manchmal gönnte sie sich schuldbewusst das Vergnügen, ihren Körper ganz zu befeuchten.
Am Morgen des siebten Tages drehte Fritzl dann nach dem Zufallsprinzip den Haupthahn wieder auf – für zehn Minuten, eine halbe Stunde, manchmal auch einen ganzen Tag, damit sie da unten Zeit hätten zu denken, das Wasser würde nun endgültig wieder fließen. Auch der Strom kam für eine Weile wieder, die Lampen blitzten kurz auf und wurden wieder schwarz, der Motor des Kühlschranks ließ das Gehäuse vibrieren, dann ging er gleich wieder aus.
Zwei Wochen Strafe. Mit dem zeitweilig fließenden Wasser füllte Angelika die Badewanne, und wenn sie wieder leer war, saugten die Kinder an den Wasserhähnen. Abgesehen von seltenen lichten Momenten herrschte absolute Dunkelheit wie in einer Grotte, in der verirrte Höhlenforscher verrückt vor Angst sterben, wenn sie keine Batterien und Streichhölzer mehr haben.
Die aufgetauten Tiefkühlprodukte verzehrten sie nacheinander roh, damit sie nicht verdarben. Die Vorräte im Kühlschrank schimmelten, faulten, stanken. Es gab Reste von Keksen, trockenes Brot. Die letzten Konserven wurden geöffnet und an die Kinder
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