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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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neben dem Grüppchen her.
    Angelika glaubte nicht an Magie, aber manche Dinge besaßen Zauberkraft. Man verkannte die Fähigkeiten, über die sie in Hülle und Fülle verfügten wie diese elektronischen Spielereien im Teleshopping. Da Angelika fernab der menschlichen Gesellschaft lebte, konnte sie Dinge eher hören als andere Menschen und sie mit dem unbefangenen Blick dessen betrachten, der das Rad erfunden hat, als er einen Baumstamm eine Wiese hinabrollen sah.
    Eine Glasscherbe konnte Gegenstände und Menschen sehr wohl vergrößern, sie konnte ihr Bild einfangen, sofern sie ins Wasser gefallen war, das Meer sie glattgeschliffen hatte, sie an den Strand gespült worden war und der Sand ihr ihre ganze Transparenz zurückgegeben hatte.
    In jenem August war es im Keller glutheiß. Angelika schaltete die Kochplatten an, damit der Store schneller trocknete. Sie hatte Papierstreifen ausgeschnitten, sie schwarz angemalt und an die Wände ihres Zimmers sowie des Kinderzimmers geklebt. Rechtecke als Abbilder von Fenstern mit kleinen Scheiben und Riegeln. Darüber hängte sie die noch feuchten Vorhänge.
    Sie schaltete den Fernseher aus, die Wirklichkeit war schöner. Hinter den Fenstern lag eine fremde Stadt. In der Ferne sah man den Eiffelturm auf einer Wiese voller Karusselle mit Kindern in kleinen Autos, in Raketen und rittlings auf alten Gäulen aus abgewetztem emaillierten Blech mit offenem, schäumendem Maul.
    Die Freiheitsstatue und der Parthenon waren näher. Sie standen mitten im Meer und drehten sich um Boote und Surfbretter. Eine lautlose Fortbewegungsart, sie zog nicht das kleinste Rauchwölkchen hinter sich her.
    Auch Venedig war da. Päpste in Gondeln. Angelika erkannte London an der Queen, Rettungsschwimmer fischten sie aus der Themse, nachdem sie auf ihrem Balkon im Buckingham Palace gestolpert und ins Wasser gefallen war. Moskau mit diesen Zaren, die geschmückt waren wie Pfauen und denen Mao Tse-tung unablässig in den Kopf schoss, gefiel ihr nicht. Blutlachen auf dem Eis – die Schlittschuhläufer glitten in einer roten Fontäne aus.
    Sie sah Hochhäuser mit Swimmingpools auf dem Dach. Lustige Gebäude, sie sahen aus wie Berghütten, die durch die Anzahl ihrer Stockwerke zu Wolkenkratzern geworden waren. Familien an den Fenstern, sie winkten zum Gruß. Sie wollten sie nach Neuigkeiten fragen, aber Angelika hatte größere Lust, ein Gespräch mit einem jungen blonden Mann im Trainingsanzug anzufangen, der auf sie zurannte und dabei mit seiner Mütze in der Hand wedelte.
    Er sagte, er sei einverstanden. Sie wusste nicht, wovon er redete.
    ,,Was meinen Sie?“
    Die Geräusche des Kellers drangen nicht durch die Mauern, und Angelika traute sich nicht, den Vorhang aufzuziehen und das Fenster zu öffnen.
    ,,Ich sage doch, ich verstehe nichts.“
    Der Mann fing an zu schreien, aus Wut zerbiss er sich die Hände. Sein Haar wurde dunkel, sein Gesicht hässlich und blass. Jede Sekunde durchschlug ihn, er alterte rasend, als würde die Zeit ihn mit Steinen bewerfen. Sie wandte den Blick ab, aus Angst, ihn vor ihren Augen sterben zu sehen. Sie blickte nach Amstetten, das ferne wogte wie ein Floß, und sah, wie man ihn auf dem Hauptplatz in den Sarg legte.
    Sie wollte an der Trauerfeier teilnehmen, ohne von diesem Store behindert zu sein, der das Ganze dämpfte. Der Vorhang war hartnäckig, es gelang ihr nicht, ihn abzureißen. Der Fensterriegel klemmte. Sie versuchte, mit der Faust, die sie mit einem alten Pullover umwickelt hatte, die Scheibe einzuschlagen. Es war Panzerglas, abgedunkelte Scheiben, die die Umgebung immer undeutlicher werden ließen und sie nach und nach in Dunkelheit tauchten. Eine düstere Landschaft, die vergessen hatte, ihre Straßenlaternen anzuzünden.
    Am nächsten Tag nahm sie die Vorhänge ab und riss die Fenster herunter. Die Collagen, die sie mit den Kindern angefertigt hatte, waren sehr viel lustiger. Sie verloren nicht ihre Farben, wenn eine launische Fensterscheibe die Nacht hereinbrechen ließ. Angelika war begierig nach einer bequemen Wirklichkeit. Sie war wahrlich nicht unzufrieden über den Mangel an Öffnungen – all diese schlagenden Türen, diese Fensterläden, die im Wind klapperten, dieses Licht, das an- und ausging, wie es dem Tag, der Nacht, dem Regen, der Sonne gerade passte.

Die Kinder stritten sich in der Küche. Petra aß ihrem Bruder das letzte Rippchen Schokolade weg. Sie hatte die Tafel aus dem Schrank stibitzt, wo Angelika sie ganz weit hinten, hinter einer

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