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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition)
Autoren: Régis Jauffret
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Spurenelemente.“
    Von dieser Mangelerscheinung hatte Angelika oft im Fernsehen gehört. Mit der Ausrede, sie seien teuer, hatte Fritzl sich geweigert, ihr diese Lutschdragees mit Kupfer, Lithium, Silber und Gold zu besorgen. Gleich als sie ins Spital gekommen waren, hatte Angelika danach verlangt. Man musste eine Krankenpflegerin in die nächstgelegene Apotheke schicken, damit sie dieses Wundermittel holte.
    Der Professor zuckte mit den Schultern.
    ,,Er muss richtig behandelt werden.“
    Nachdem Romans Blitzbeschulung gemeinsam mit Martin fehlgeschlagen war, willigte Angelika ein, dass er zweimal die Woche eine Therapiesitzung bekäme.
    ,,Aber nicht bei dieser Frau!“
    Man stellte ihr verschiedene Psychologen vor. Sie wählte einen Mann um die sechzig mit weißem Haar und Bürstenschnitt.
    ,,Roman braucht Männlichkeit.“

Anfang März 2008 zeigte Petra die ersten Symptome einer körperlichen Schwächung. Ein Schnupfen war auf die Bronchien geschlagen, sie hatte leichtes Fieber und Schüttelfrost. Im Winter waren diese Leiden im Keller endemisch.
    Angelika gab ihr dreimal am Tag Aspirin und einen Löffel Hustensirup. Das Fieber fiel, der Schüttelfrost ließ nach, aber ihre Schwächung wurde zur Entkräftung, und Petra stand nur noch auf, um auf die Toilette zu gehen und zweimal täglich zu duschen, wie Angelika es den Kindern vorschrieb. Mitunter hatte Petra so starke Kreuzschmerzen, dass sie weinen musste.
    Sie lag den ganzen Tag auf dem unteren Stockbett im Kinderzimmer. Mit der Zeit hatte sie eine zärtliche, liebevolle Beziehung zu Roman entwickelt. Heimlich schlüpfte er unter die Decke, um ihr Trost zu spenden. Er trocknete ihre Tränen mit Taschentüchern, steckte ihr Süßigkeiten in den Mund, kniete sich neben sie und hielt ihre Hand, damit sie diese Prüfung nicht allein durchstehen musste.
    ,,Du bist lieb.“
    Oft sagten sie einander, dass sie sich lieb hätten. Dieses Gefühl war im Keller nicht sehr geschätzt.
    Miteinander erfanden sie eine neue Sprache, die nicht einmal Martin verstand. Eine weniger gutturale Sprache, weich wie die samtigen Gedichte Puschkins. Gedämpfte Gespräche, wenn Roman sich nachts zu Petra flüchtete. Er sagte zu ihr, er wolle ihr zeigen, wie sehr er sie liebte, und drückte sie mit aller Kraft an sich.
    Ein leises Lachen, nicht lauter als ein Flüstern.
    ,,Hör auf, ich ersticke ja!“
    Der Junge hörte nicht auf. Sicherlich träumte er davon, an ihr kleben zu bleiben, sich tragen zu lassen wie ein kleines Känguru im Beutel der Mutter.
    ,,Ich liebe dich noch mehr als das.“
    Er versuchte, sie noch fester zu drücken. Sie strich ihm durchs Haar und küsste ihn auf die Stirn. Er schob sich den Daumen in den Mund und schlief ein.
    Bevor der Keller erwachte, trug sie ihn dann in Angelikas Zimmer, wo er eigentlich auf der kleinen Matratze hätte schlafen sollen, die man bei Ausbruch ihrer Krankheit dort hineingelegt hatte.
    Martin war eifersüchtig auf die Zuneigung, die seine Schwester dem Kleinen entgegenbrachte. Angelika, die manchmal prüde sein konnte, fand es krank, dass eine große Schwester mit ihrem kleinen Bruder in einem Bett schlief. Wenn sie die beiden ertappte, mussten sie ein Bombardement aus Geschrei über sich ergehen lassen. Doch diese Rüffel ließen ihre unschuldige Liebe nur noch mehr wachsen.
    Martin jagte Roman, als sei er pervers. Unter den Latten im Keller waren sicherlich irgendwo Gesetzestafeln versteckt, von deren Existenz allein er wusste.
    ,,Du darfst nicht lieben.“
    Liebe musste in die Tat umgesetzt werden. Gefühle waren verpönt außerhalb der Freizone des Bettes, wo man manchmal eine Parodie darauf duldete. Vielleicht verspürte Martin ja nur das schändliche Bedürfnis, auch auf die andere Seite des Spiegels zu wechseln und sich an seine Schwester zu schmiegen wie früher, wenn sie eng umschlungen auf dem Küchenboden oder auf einem hohen Regalbrett in der Speisekammer eingeschlafen waren.
    Sie trafen sich heimlich wie verliebte Jugendliche. Endlose Dialoge, in denen sich ihre persönliche Sprache mit neuen Wörtern aus Lautmalereien, mit tönenden Silben und gehauchten Vokabeln anreicherte, die das Gegenteil bedeuteten, wenn man sie laut aussprach.
    Gestohlene Augenblicke in der Speisekammer hinter Kartons, die sie stapelten wie Soldaten Sandsäcke, um feindliche Kugeln abzufangen. Getuschel über den Tisch hinweg, wenn Petra mit Kartoffelschälen an der Reihe war und sie Roman mit der Aufgabe bedachte, die geschälten Kartoffeln in
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