Claustria (German Edition)
hervorheben, in denen Sie Ihr wahres Gesicht zeigen.“
„Welches Gesicht?“
„Wir werden alles daransetzen, den rühmlichen Aspekt Ihrer Persönlichkeit in den Vordergrund zu stellen. Man kann einen Menschen mit einer Mauer vergleichen – selbst an den sonnigsten Sommertagen bleibt immer eine Seite der Mauer im Schatten, während die andere Seite hell strahlt. Sie sind ein großherziger Mann, Herr Fritzl – ein Dreckskerl, ein Perverser hätte doch niemals die Bürde auf sich genommen, seiner Tochter sechs Kinder zu machen! Oder haben Wüstlinge jemals Wert darauf gelegt, den Huren Kinder zu schenken?“
Gretel lächelte.
„Das ist nur eine Metapher. Ich würde mir doch nie erlauben, Ihre Tochter mit einer so abscheulichen Bezeichnung zu versehen! Nun, sagen wir, Ihr Kinderwunsch übersteigt Ihren Geschlechtstrieb bei Weitem.“
„Ich war oft tapfer.“
Der Anwalt hüpfte auf seinem Sessel.
„Genau das wollen wir beweisen!“
Ein Polizist klopfte an. Er schob sein Gesicht in den Türspalt. Die halbe Stunde, die man dem Anwalt zugestanden hatte, war zu Ende.
„Für heute sind wir fertig.“
Die beiden Männer erhoben sich gleichzeitig. Sie gaben sich die rechte Hand, die linke legte sich kurz auf die Schulter des jeweils anderen, als würden sie damit den Pakt besiegeln, der sie fortan einte.
Im Korridor begegnete Gretel dem Wiener Psychiater Klaus Nert, einem Mann um die fünfzig mit weißem Haar. Er war am Abend zuvor, als er auf seinem Sofa gelegen und einen Film von Hitchcock angesehen hatte, überstürzt herbestellt worden.
„Ich komme übermorgen am Spätnachmittag.“
Der Bundespräsident persönlich musste sich einschalten, damit Nert sich bereiterklärte, auf der Stelle in sein Auto zu steigen und mitten in der Nacht die hundertdreißig Kilometer von Wien nach Amstetten zurückzulegen.
Seit Fritzls Verhaftung waren die Behörden in ständiger Angst, dass er sich das Leben nehmen könnte. Die ausländische Meinung hätte daraus geschlossen, dass man Fritzl in den Selbstmord getrieben hatte, um den Fall abzuschließen, bevor er überhaupt vor Gericht gebracht worden war. Man musste der Welt zeigen, wie entschlossen Österreich war, dieses Geschwür ganz offen unter der Lupe des Gerichts herauszuschneiden und den Eiter bis zum letzten Tropfen auszudrücken.
Bis zur Urteilsverkündung sollte Klaus Nert dem Angeklagten nicht mehr von der Seite weichen. Bei der Verhandlung kommt er umringt von einem Dutzend Polizisten, die ihn bis zum Sessel des Angeklagten in der Mitte des Gerichtssaals an einem kleinen Tisch eskortieren, wo er bequem seine Unterlagen ausbreiten kann.
Hinter dem Hohen Gericht ein großer Wandbehang: Der Adler wie eine schlechte Erinnerung, in einer Ecke Hammer und Sichel, auf der Richterbank eine ausgelöschte Kerze und ein Kruzifix, auf einen Kupfersockel geschweißt. Eine eklektische Ansammlung von Krimskrams, Ausdruck des Willens, niemanden zu kränken, des Bewusstseins der chaotischen Geschichte des Landes, der Ideologien, die daherkommen wie Aberglaube.
Ein Land, das nach dem Krieg beschlossen hatte, sich mit seinen ehemaligen Nazis abzufinden, mit dem Kommunismus, der den Sowjets, die weite Teile Österreichs zehn Jahre lang besetzt hielten, so am Herzen lag, mit der freien Wirtschaft und gelegentlich sogar mit den Menschenrechten, mit denen die westlichen Länder selbst ihre geringsten Auslassungen würzen.
Ein Mann mit doppelter Staatsbürgerschaft, der österreichischen und der französischen. Als ich Nert im Juni 2009 in seinem Haus traf, war der Prozess seit Ende Februar vorbei. Dank Ninas Beharrlichkeit erklärte er sich einverstanden, mich zu empfangen.
„Er ist Schriftsteller, er wird keine Aufzeichnungen machen, nicht mal Fotos.“
Jedes Mal, wenn Nina mit einem Zeugen in diesem Fall Kontakt aufnahm, spulte diese Frau aus großbürgerlichem Hause mit ihrer melodiösen Stimme die gleiche Leier ab.
Nert sah mich im Licht eines Sonnenstrahls an, der durch die breiten Ritzen der geschlossenen Fensterläden einfiel.
„Ich habe Ihre Vita im Internet gelesen.“
Er verlangte meinen Ausweis, als wollte er sichergehen, dass das Passfoto auch dem Gesicht entsprach, das er vor sich hatte, sowie den Gesichtern, die er auf den konsultierten Internetseiten hatte sehen können. Er nickte, wie um mir zu bestätigen, dass ich tatsächlich ich war. Ich wies ihn darauf hin, dass man sich trotz allem nie sicher sein könne, wirklich der Person gegenüberzustehen, von
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