Claustria (German Edition)
stellen. Ich habe versucht, seinen Fall mit Serienmördern zu vergleichen. Das hat zwar nichts mit Fritzl zu tun, aber ich wusste einfach nicht, in welche Kategorie ich ihn einordnen sollte. Nichts passt – aus medizinischer Sicht ist er nicht einmal nervenkrank. In den kommenden Monaten und Jahren kann man wohl nicht viel mehr tun, als ihn reden lassen und zuhören.“
„Zu welchem Zweck?“
„Keinem. Dieser Patient hat keine Tiefe, kein Innenleben, keinerlei Interessen.“
„Denken Sie, Anneliese wusste es?“
„Man kann auf so einen Gedanken kommen, man kann es aber nicht wissen.“
„Man kann auf den Gedanken kommen, dass der Ehepartner eine andere Beziehung hat, ein Doppelleben führt, eine zweite Familie gegründet hat. Aber wer würde auf den Gedanken kommen, dass der Gatte sieben Kinder mit seiner eigenen Tochter gezeugt hat, die er vierundzwanzig Jahre lang in einem Keller gefangen hielt?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht.“
Er widmete sich wieder seinem Schnitzel, das er mit Salz bestreut und dann in kleine Würfel geschnitten hatte, als wolle er ein Kleinkind füttern, das in seiner Aktentasche lag.
„Sind Sie der Meinung, dass Fritzl Angelikas Kinder missbraucht hat?“
„Das kann man nicht wissen.“
„Haben Sie ihn gefragt?“
„Ich glaube nicht.“
„Warum nicht?“
Er entschuldigte sich, für Nachspeise habe er keine Zeit. Er zog seinen Mantel an, ging.
Als gäbe es Fragen, die man partout nicht stellen wollte, um den Schuldigen nicht zu traumatisieren. Selbst ein Arzt, der daran gewöhnt ist, Schreckliches zu hören, will manche Antworten lieber nicht hören. Als gäbe es wie in Dantes Hölle mehrere Kreise im Keller, hatte ein jeder darauf verzichtet, alle diese Kreise zu besuchen.
Am Ende eines fast zweistündigen Gesprächs verabschiedeten wir uns von Doktor Nert. Als wir ins Auto stiegen, rief er Nina an.
„Die Zeit, die ich mit Ihnen verbracht habe, habe ich mit dreihundert Euro berechnet. Ich erwarte, dass Sie das Geld dem Roten Kreuz spenden.“
Gegen achtzehn Uhr komme ich ins Hotel zurück. Die Sonne scheint ins Zimmer, ich ziehe die Vorhänge zu, um die röchelnde Klimaanlage zu entlasten. Im Bademantel fahre ich in den Fitnessraum im ersten Untergeschoss. Im Aufzug eine kleine Frau im Jogginganzug, so gerade, so steif, so schmal, dass man meinen könnte, sie sei um einen kleinen Stiel herumgebaut.
Die Sauna ist leer. Den ganzen Tag über hatte es dreißig Grad. Bei dieser Hitze hätte man wohl lieber ein paar Runden im Pool gedreht, aber ich treffe oft nicht nachvollziehbare Entscheidungen.
Dieser Schwitzkasten ist ein Ort zum Nachdenken. Es gibt nichts anderes zu sehen als die Bretterwand, derer man müde wird. Man schließt die Augen, schwitzt, denkt. In der Sauna zu schmelzen ist so, wie zwanzig Minuten während der Hundstage im Sommer im Keller zu verbringen – wenn man den Eindruck hat, man würde gleich im Schlaf sieden auf diesem so feuchten Bett, dass Angelika manchmal träumte, von der Matratze würde Dampf aufsteigen.
In vierundzwanzig Jahren haben Tabus Zeit, sich aufzulösen wie Schneemänner, die nie den Frühling erleben.
Die Menschheit ist schwach, die Moral schlängelt sich durch die Jahrhunderte, durch Werte, die in Vergessenheit geraten oder je nach Bedürfnis ständig umgestaltet werden, durch Ernährungs- und Produktionsweisen und die Anpassung an die neuen Technologien. Dort unten entwickelten sich die Werte im Verhältnis zum Schmerz, zur ewigen Gefangenschaft und schließlich zur unendlichen Entfernung zwischen Dunkelheit und Sonne, zur Zeitlosigkeit, in der es keine Tage gab, weil immer Nacht war. In diesen vierundzwanzig Jahren, in dieser Ewigkeit kann eine ganze Zivilisation untergehen.
Inzest, Vergewaltigung, dann der erwünschte Inzest, an den man immerzu denken muss, das fieberhafte Warten auf den einzigen Penis der Welt, der je in diesen Keller eindringen wird. Ein Penis, auf den man nur hoffen kann – tage-, wochenlang lässt er sich nicht blicken, wenn er sie alleingelassen hat, um in den Urlaub zu fahren und sich in anderes Fleisch zu bohren. Der Hunger, wenn die Vorräte knapp werden, und das Fehlen dieses Viatikums, welches das Bett in einen fliegenden Teppich verwandeln würde.
Die orgastischen Schreie, die in den Chor der Frauen einfallen, die auf der gesamten Erdoberfläche im selben Moment einen Orgasmus haben. Der egalitäre Orgasmus, nivelliert durch die Unendlichkeit, und wenn Fritzl ihr
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