Claustria (German Edition)
uns Fotos schicken.“
Am selben Abend kamen die Fotos. Wir sahen sie bei einem Bier an.
„Das ist echt deprimierend.“
Das fand Nina auch.
„Ich kann mir vorstellen, dass ich ermordet werde, verstümmelt, gefoltert. Aber ich kann mir nicht vorstellen, vierundzwanzig Jahre lang in einem Loch zu leben.“
Versuchen Sie es. Auch Sie können sich das nicht vorstellen. Möglicherweise eine Woche lang, vielleicht auch vier. In der folgenden Nacht werden Sie Angst vor dem Einschlafen haben. Wenn der Schlaf manchmal eine Stahlbetontür war …
Gretel schlug wütend mit der Gabel an den Teller.
„Wollen Sie wohl aufhören, sich über mich lustig zu machen?“
„Aber Herr Magister, ich bin wirklich Landespolizeikommandant von Niederösterreich.“
Eine Stunde später saß Gretel auf dem Polizeiposten von Amstetten Josef Fritzl von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Mit den Kiefernholzsesseln wirkte das kleine, blütenweiße Büro mit der niedrigen Decke wie eine Berghütte. Gretel war kurz stehen geblieben, bevor er den Raum betreten hatte, bewegt wie ein Auserwählter, der seinem Schicksal entgegentritt.
Fritzl kniff die Augen zusammen.
„Ich habe Sie vor langer Zeit mal im Fernsehen gesehen. Bei einer Stepptanznummer.“
Gretel verzog das Gesicht.
„Reden wir lieber über unseren Fall.“
„Damals hatten Sie noch volleres Haar.“
„Vergessen Sie nicht, dass Ihnen acht Jahre Haft drohen.“
Fritzl stützte sein Kinn auf die geballte Faust.
„Ich habe Sie gewählt, damit Sie mir aus dieser Patsche heraushelfen.“
„Eine Anklage wegen Vergewaltigung und Inzest ist in unserem Land banal. Aber Sie werden auch beschuldigt, dass Sie eines Ihrer Kinder sterben ließen.“
„Wenn ich es herausgetragen hätte, wäre es eben im Luftzug im Keller gestorben.“
Der Anwalt zog ein Moleskine -Notizbuch aus seiner Aktentasche. Er hielt den Satz in einer runden Schrift voller Schnörkel fest.
„Das ist ein interessantes Argument, das bekommt in meinem Plädoyer einen guten Platz.“
Fritzl lächelte noch breiter, ein Lächeln, das er außerhalb der Familie ständig aufsetzte.
„Meinen Sie, ich muss noch eine Nacht hier verbringen?“
„Der Fall wiegt schwer, Herr Fritzl.“
„Fordern Sie zumindest eine zeitweilige Freilassung. Ich musste mit einer schmutzigen Decke schlafen und durfte mich nicht mal notdürftig waschen.“
„Wie jedem Gefangenen steht auch Ihnen eine Behandlung gemäß den Menschenrechten zu. Ich werde für Sie eine halbe Stunde jeden Morgen fordern, in der Sie sich waschen können.“
„Ich habe nicht mal einen Kamm.“
Der Anwalt zog ein schwarzes Lederetui aus seiner Tasche und reichte es Fritzl.
„Hier haben Sie einen.“
Fritzl holte den Kamm aus dem Etui. Er stand auf und kämmte sich vor der nachtdunklen Fensterscheibe.
„Ich habe auch keinen Rasierapparat, keine Pomade, keine Gesichtscreme.“
Genervt versprach der Anwalt, ihm die Toilettenartikel am nächsten Tag zu bringen.
„Dennoch würde ich mich zu Hause wohler fühlen. Hier kann ich nicht mit Journalisten reden, man hat mir mein Handy abgenommen und lässt mich keine E-Mails schreiben.“
„Wichtig ist, dass Sie sich bei den Verhören nicht zu Emotionen verleiten lassen. Spielen Sie Ihre Schuld grundsätzlich herunter, präsentieren Sie sich in einem sympathischen Licht.“
Gretel hielt inne und musterte Fritzl.
„Denn Sie sind ja ein sympathischer Mann. Sie haben ein gütiges Gesicht, Ihr Blick flößt Vertrauen ein. Sie könnten den Beduinen Sand verkaufen!“
Fritzl warf sich in die Brust und lächelte dünn.
„Pochen Sie auf Ihren Stand als Familienvater. Sie sind zwar ein, sagen wir mal, origineller Vater – ja, originell ist das richtige Wort –, aber trotz allem ein Vater, und die Geschworenen werden dies sicherlich als mildernde Umstände berücksichtigen.“
„Vor Ende des Monats muss ich wieder draußen sein. Am 30. April habe ich einen Termin beim Notar, um den Kaufvertrag für eine ehemalige Schokoladenfabrik zu unterzeichnen. Ich will sie zu einer Seniorenresidenz umbauen.“
„Zunächst einmal wäre es besser, wenn Sie sich ausschließlich darauf konzentrierten, sich eine Geschichte zurechtzulegen. Fakten sind Fakten, aber wir müssen sie als Rohmaterial nehmen und sie zu unserem Vorteil nutzen. Betrachten Sie Ihr Leben wie Dreharbeiten zu einem Film. Wir müssen das Material nun zusammenfügen, indem wir die düstersten Szenen herausschneiden und die lichtvollen Momente
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