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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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in der Masse anständiger Leute und ganz normaler Schurken aufging, von denen jeder Einzelne dazu beiträgt, das Rudel zu vergrößern.
    Die Gutachterin, die vom Gericht bestellt worden war, hat einen ausführlichen Bericht erstellt. Sie wies auf schwere Persönlichkeitsstörungen hin, auf absoluten Machthunger und tief greifende sexuelle Abweichungen. Sicherlich um statt einer Haftstrafe einen Platz in einem Spital zu erwirken, hatte er ihr anvertraut, dass er einen schlimmen Hintergrund habe und dazu geboren sei, Frauen zu vergewaltigen. Diese Äußerungen führten dazu, dass die Gutachterin dem Gericht zu einer lebenslangen Unterbringung in einer Anstalt riet.
    Sie gestand mir, dass sie sich bei den endlosen Gesprächen mit Fritzl zwingen musste, die Augen offen zu halten, sich nicht von seiner monotonen Stimme wiegen zu lassen und einzuschlafen. Seit der Eröffnung des Falles hatte sie nur drei Interviews gegeben, eines der BBC und zwei an deutschsprachige Zeitungen. Ich erinnerte sie an ein ausführliches Interview, erschienen in einer französischen Zeitschrift, bei der sie auch auf der Titelseite war.
    „Das ist ein Fake. Aber das spielt keine Rolle, ich will von der ganzen Sache nichts mehr wissen.“
    Nina konnte sie zu einem viertelstündigen Gespräch in einem Lokal in Graz überreden. Am Ende dauerte es über fünf Stunden. Eine Art gegenseitige Faszination, unerklärlich wie Liebe auf den ersten Blick. Als wir uns auf dem Platz vor dem Dom verabschiedeten, endete diese eigenartige Geschichte so abrupt, wie sie begonnen hatte.
    Sie sprach Französisch, in ihrer Jugend war sie oft in der Bretagne bei Freunden ihrer Eltern gewesen, aber sie wollte mir lieber auf Deutsch antworten. Dieselbe Scheu, Angst, zu straucheln, etwas Falsches zu sagen mit Worten in einer fremden Sprache, vor denen sie sich fürchtete wie vor Briefbomben. Im Gespräch ließ sie sich dennoch zu ein paar Äußerungen ohne Netz und doppelten Boden hinreißen.
    „Fritzl hat Angelika vergewaltigt, seit sie zwölf war. Warum sollte er sich dann in dieser rechtlosen Zone des Kellers nicht auch an Petra vergangen haben?“
    „Das weiß ich nicht.“
    „Haben Sie ihn nicht danach gefragt?“
    „Über Angelikas Beziehungen zu ihren Kindern kann ich Ihnen nichts sagen. Ich weiß auch nicht, ob er sie schon in so jungen Jahren missbraucht hat oder ob er, wie er behauptet, damit gewartet hat, bis er sie eingesperrt hatte.“
    „Aber was ist Ihre ganz persönliche Überzeugung?“
    „Ich habe keine. Niemand weiß, wie sich eine Mutter entwickelt, wenn sie vierundzwanzig Jahre lang in einem Verlies gefangen ist. Ich habe keinerlei Vergleichsmöglichkeiten. Der Fall Fritzl ist vom Himmel gefallen wie ein Meteorit, ein Splitter eines Planeten, den kein Astronom je entdeckt hat und den man auch heute noch nicht mit einem Teleskop im All verorten kann.“
    Diese Antwort war zu stark von billiger Lyrik gefärbt, als dass sie in meiner Erinnerung keinen Veränderungen unterworfen gewesen wäre.
    „Haben Sie Angelika je kennengelernt?“
    Sie blickte ostentativ durch die Fensterfront auf das Straßenpflaster am Platz, das sich in der Sonne aufheizte.
    „In welchem Zustand war sie, als sie aus dem Keller geholt wurde?“
    Sie wagte den Sprung.
    „Angelika Fritzl ging es gut.“
    „Man hat allerdings von einer geisterhaften Erscheinung gesprochen, einem gebeugten Skelett, einer alten Frau, die man für fünfundzwanzig Jahre älter gehalten hätte.“
    „Sie sah nicht älter aus als vierzig.“
    Als hätte die Atmosphäre im Keller ihr zwei Jahre an Falten erspart. Vielleicht konnte sie ihr Erscheinungsbild ja auch nach Belieben verändern. Den einen präsentierte sie sich zerknirscht, den anderen als herausgeputzte junge Frau, unverbraucht, vielleicht sogar keck und begehrenswert.
    „Sind Sie sicher, dass man Ihnen an Angelikas Stelle nicht eine ihrer Schwestern gezeigt hat?“
    Dünnes Lächeln, kein Wort.
    Am ersten Prozesstag aßen wir mit dem Dritten im Bunde der österreichischen Psychiatrie, der Fritzl untersucht hatte, zu Mittag. Jener Psychiater war hinzugezogen worden, damit er ein Therapiemodell für Fritzls Behandlung entwickelte. Am Morgen hatte er im Gerichtssaal vorgetragen und den guten Willen des Staates zur Heilung von Fritzls Seelenzustand bezeugt, auf dass dieser eines Tages in guter psychischer Verfassung in seiner Zelle sterben kann.
    „Welche Art von Therapie schwebt Ihnen vor?“
    „Man müsste erst eine Diagnose

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