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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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ab. Dieser Streich wurde erst nach seiner Verhaftung bekannt. Sein Fall war aber ohnehin schon kompliziert genug, also bearbeitete man diese Akte nicht weiter.
    In der folgenden Zeit beschwerte sich der Mieter wiederholt darüber, dass Vorräte aus seinem Küchenschrank und verderbliche Lebensmittel aus seinem Kühlschrank fehlten.
    „Allein diese Woche haben sich ein Sack Kartoffeln und eine Packung Schinken in Luft aufgelöst.“
    „In Luft aufgelöst? Sind Kartoffeln etwa ein so flüchtiger Stoff?“
    Fritzl hatte seine Mieter immer bestohlen – in einer Art Recht auf Plünderung, das er sich zugestand wie ein General im Feld, der seine Truppen ernähren muss. Solange die Mieter noch zahlreich waren, wurden die Einzelnen nur ein-, zweimal im Monat beklaut und konnten die Erinnerung an einen Braten, ein Dreieck Käse, ein Stück Butter, die sie tags zuvor gekauft und in ein Kühlschrankfach gelegt hatten, ihrer Einbildung zuschreiben, wenn die Sachen am nächsten Abend bei ihrer Rückkehr verschwunden waren.
    „Sie sollten sich an einen Arzt oder einen Marabut wenden.“
    Als Sohn eines Österreichers, der eine Frau von der Elfenbeinküste geheiratet hatte, war Gerald oft den rassistischen Witzen seines Vermieters ausgesetzt.
    „Vielleicht sind Sie verhext.“
    Fritzl fand sich urkomisch und lachte.
    Eine Woche lang hielt Fritzl sich zurück, dann konnte er sich nicht mehr beherrschen, einen weiteren kleinen Diebstahl zu begehen. Mittlerweile versah der Mieter seine Vorräte, selbst die Eier, mit Zahlen, die er mit blauem Filzstift auftrug. In der Jackentasche bewahrte er die Inventarliste auf und strich die Zahlen jeweils aus, wenn er die Lebensmittel verzehrt hatte.
    Genervt sprach Fritzl ihn eines Abends an.
    „Haben Sie den Voodoo aufgegeben und sich nun in die Numerologie gestürzt?“
    „Waren Sie wieder bei mir?“
    „Ich achte sehr auf die Privatsphäre meiner Mieter.“
    Fritzl lachte leise.
    „Aber heute Nachmittag musste ich Ihr Apartment durchsuchen.“
    „Sie haben es durchsucht?“
    „Ich habe mir gesagt, bei Ihrer Hautfarbe sind Sie vielleicht Moslem. Bei all diesen Terroranschlägen ist das meine Bürgerpflicht.“
    Der Mann öffnete schnell die Tür und schlug sie fassungslos zu, ohne sich noch die Mühe zu machen, zu erklären, dass er in Tirol bei rechtschaffenen Leuten aufgewachsen sei. Auf dem Treppenabsatz hörte er noch immer Fritzls leises Lachen.
    Bevor Gerald endlich eine andere Wohnung fand, stahl Fritzl ihm mehrere Kleidungsstücke sowie ein altes Kofferradio, einen Apparat aus granatrotem Plastik, nicht größer als ein Stundenbuch. Es war Teil der wenigen persönlichen Gegenstände, die die österreichische Justiz Fritzl ein Jahr nach der Urteilsverkündung wieder zurückgab. Die Batterien waren leer, Fritzl beschwerte sich über die horrenden Preise, die er im Geschäft der Gefängniskantine dafür bezahlen musste, trotzdem kaufte er sie murrend.
    In einem Video auf YouTube protestierte der Mieter vergebens, nachdem er das Radio auf einem Foto von Fritzls Zelle wiedererkannt hatte. Ein Aufseher, geschmiert von einer Presseagentur, hatte es heimlich geschossen, nachdem er ein ruinöses Wochenende auf einer Poker-Site verbracht hatte. Das Video ist noch immer online, an jenem Tag aber klickten es lediglich eine Handvoll User an.

Aufeinandergesetzte Stockwerke, Niveauunterschiede zwischen den Räumen, eine Anhäufung ungleicher Quader unter einer merkwürdig rechtwinkligen Fassade. Seit Januar 2010 stand das Haus zum Verkauf, ein Anwalt aus Salzburg sollte ihn abwickeln. Nina rief ihn an, um einen Termin zu vereinbaren. Eine misstrauische Frauenstimme meldete sich am anderen Ende der Leitung.
    „Ein Kaufinteressent aus Frankreich. Ich bin seine Assistentin.“
    „Was hat er für Pläne?“
    „Er hat vor Kurzem eine Österreicherin geheiratet, sie wollen sich in Amstetten niederlassen.“
    Nina wurde mit dem Anwalt verbunden.
    „Ist er Journalist?“
    „Nein.“
    Der Anwalt blies Zigarettenrauch in die Sprechmuschel.
    „Gehen wir mal davon aus.“
    „Er ist Wirtschaftsinformatiker.“
    „Am Mittwoch, dem 18., 17 Uhr.“
    Wir schrieben April 2010. Ein Onkel von Nina war in Bayern gestorben, seine Beerdigung konnte nicht aufgeschoben werden, sie konnte mich also nicht begleiten. Der Anwalt wollte unser Treffen nicht verschieben.
    Nina hat mich beruhigt.
    „Wissen Sie, die gebildeteren Leute in Österreich sprechen alle Englisch.“
    Ich kam eine Stunde zu früh zum

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