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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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hinuntertrugen. Von Angelika verlangte er, dass sie allein eine dieser schweren Rollen Kupferrohre trug, an die sie sechs Jahre später schlagen sollte, um die Tauben und Schwerhörigen im Haus um Hilfe zu rufen.
    Als das Gröbste vorbei war, ließ er sich von der Firma, bei der er arbeitete, zwei Stahlbetontüren anfertigen, um die Schleuse zu schließen. Ein Laster mit Plane lieferte sie sechs Wochen später. Die Rechnung hat er nie bezahlt, und als er 1997 in Pension ging, machte die Betriebsleitung sie ihm offiziell zum Geschenk.
    ,,Sie sind ja kein Angler.“
    Normalerweise schenkte die Firma ihren ausscheidenden Mitarbeitern eine Angelrute mit Rolle und einen Karpfenkübel.
    Eine Seilwinde musste angebracht werden, um die Türen durch ein Loch, das er im Garten gegraben hatte, hinunterzutransportieren. Die ganze Familie half dabei, die Türen auf Holzblöcken ans Ende des Labyrinths zu schieben. Noch waren sie nicht elektronisch gesichert, sie hatten lediglich einen inneren Riegel und waren ausreichend schwer, damit sie geschlossen blieben, wenn niemand im Raum war.
    Ein trister Bunker, eine Art Küche mit Nasszelle. Nur die beiden aufgemauerten Bänke erinnerten vage an seine Bestimmung als Überlebensinsel für den langen Aufenthalt einer Familie, die sich dort zusammendrängen und darauf warten müsste, dass die Radioaktivität in der Luft so weit zurückging, dass sie wieder nach draußen gehen könnte.
    Die Einrichtung des Raumes überließ er seiner Frau.
    Anneliese bat ihre jüngere Schwester Berta um Hilfe. Eine klein gewachsene Frau, die später beim Fritzl-Prozess aussagen sollte. Als sie das Gerichtsgebäude von St. Pölten verließ, folgte ihr ein Trupp Journalisten, Fotografen und Kameraleute aller Couleur. Tags zuvor war sie beim Friseur gewesen, das Resultat: das Haar gelbblond gefärbt, Bürstenschnitt am Scheitel und ein dünner Pferdeschwanz, dessen Ende sie am Nacken kitzelte. Man rief sie auf Deutsch, Englisch, ja sogar auf Chinesisch und Arabisch an. Wenn sie die Fragen verstand, antwortete sie bereitwillig und blieb immer mal wieder stehen auf dem Weg zu der langen Straße, wo der alte Lieferwagen geparkt war, gesteuert von einer Lesbe, mit der sie gekommen war.
    Wir folgten Berta bis zum Auto. Die Journalisten waren nacheinander verschwunden. Ich holte sie ein, Nina rannte hinter mir her. Ich sah Berta an, ihre Iris war bläulich, fast durchscheinend, ihr Blick leer. Ich legte ihr die Hand auf den Arm, sie fing an zu zittern.
    ,,Waren Sie oft im Keller?“
    Ich hatte geschrien, als hoffte ich, sie verstände besser Französisch, wenn ich ihr die Worte einhämmerte.
    ,,Was?“
    ,,Im Keller?“
    Sie stieg in das Auto, ohne Nina zu hören, die die Frage mit Hostessenstimme für sie übersetzte.
    Ihre Begleiterin saß schon am Steuer und fuhr schlingernd los.
    Am Horizont der geradlinigen Straße verloren wir sie aus den Augen.
    Seit der Entdeckung ihrer Nichte und deren Kinder im Keller fütterte Berta die Medien. Lange Zeit wimmelte es in dem winzigen Wohnzimmer ihrer bescheidenen Behausung nur so von Journalisten.
    ,,Mein Schwager war ein Tyrann.“
    Der Rest ihrer Leier bestand aus Erinnerungen an das Haus in Amstetten. Eine Atmosphäre der Gewalt, in der Frau und Kinder gedemütigt und geschlagen wurden. Christof war mit zwölf sogar ins Spital eingewiesen worden, nachdem Fritzl ihm die Nase gebrochen hatte, als er ihm das Gesicht an die Wand seines Zimmers geschlagen hatte.
    ,,Haben Sie diese Gewalttaten denn nicht der Polizei gemeldet?“
    ,,Damals haben alle Männer in unserer Gegend geschlagen.“
    ,,Haben Sie in diesen vierundzwanzig Jahren nie verdächtige Geräusche gehört?“
    ,,Ich habe ja nicht dort gewohnt.“
    Darüber hinaus wiederholten die Medien um die Wette, dass der Keller aus Beton gewesen und mit reichlich Glaswolle schalldicht gemacht worden sei. Eine von etlichen anderen erfundenen Wahrheiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass niemand etwas hörte, war jeden Tag gering, man hätte sie in die 8642. Potenz erheben müssen – so viele Tage hatte Angelika im Keller verbracht. Die Wahrscheinlichkeit war so lächerlich gering wie die, einen Liter Wasser in einem weißglühenden Ofen nach einer Stunde zu Eis erstarren zu sehen. Diesen wunderlichen Vergleich hatte sich ein Mathematiker ausgedacht, um ein Paradoxon zu veranschaulichen.
    Ein Jahr nach der Verhandlung wurden Angelikas neue Identität und Adresse der Redaktion eines britischen Boulevardblattes zugespielt, die ein

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