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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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hernach völlig zerbombt vorzufinden und auch selbst zu verbrennen, sollte eine Bombe den Fels durchschlagen.
    Wie immer sagte sie nichts. Fritzl grübelte oder schimpfte allein vor dem Fernseher. An jenem Abend erlaubte sie sich, ihm eine Frage zu stellen.
    ,,Könnten wir nicht einen Bunker gegen die Atombombe bauen? In Amerika haben alle einen im Garten.“
    ,,Warst du schon mal in Amerika?“
    ,,Ich habe ein Foto in der Zeitung gesehen.“
    Fritzl stellte sein Bier ab. Mit einem plötzlichen Lächeln auf seinen schaumigen Lippen lehnte er sich im Sessel zurück.
    Wie jede Nacht wartete er, bis Anneliese im Bett war, dann drang er in Angelikas Zimmer ein. Ein unveränderliches Ritual, dem er nun seit über einem Jahr frönte. Langsam hob er die Bettdecke an, unterließ aber das Stöhnen, um sie nicht zu wecken.
    Am Morgen fühlte sich ihr Gesicht an, wie mit einem trockenen Film überzogen. Wenn sie sich gewaschen hatte, hatte sie rote Streifen auf der Haut, die von dem Sperma gereizt war. Sie dachte, Mäuse kletterten durch ihren Schlaf und bespritzten sie mit ihrem klebrigen Urin.
    In jener Nacht schlief er nicht. Er war zu aufgekratzt, eine Schlaflosigkeit von großer Fröhlichkeit. Er ging im Gang auf und ab, manchmal blieb er stehen und sah mit derselben Hingabe an die Decke wie ein Pfarrer, der die Lektüre seines Breviers unterbricht und in den Himmel blickt, weil er glaubt, dort Engel fliegen zu sehen.
    Er ging in den Keller und durch das Labyrinth – damals noch zwei kurze, aufeinanderfolgende Gänge, die nicht durch eine Tür getrennt waren. Altes Werkzeug war dort untergebracht, zerschlissene Wäsche aus der Vorkriegszeit und ein paar Kisten Grüner Veltliner – nur zu großen Anlässen entkorkte Fritzl eine Flasche Wein. Der Gang endete an einer Wand ohne Fenster.
    Er maß alles mit dem Zollstock aus, den er immer bei sich hatte, weil er grundsätzlich alles messen musste, was ihn umgab, bis hin zu dem Tisch im Lokal, an dem er zu Mittag aß. Er fühlte sich sicher, wenn er sich in einem Raum bewegte, dessen Ausmaße er kannte, sowie den Umfang der Gegenstände in diesem Raum. Diese neun Quadratmeter im Keller fand er ausreichend, um seine Tochter darin zu verstecken. Er schaltete die Taschenlampe aus und blieb kurz im Dunkeln stehen.
    In dieser Nachtstunde hatte er das Gefühl, wieder in den Steinbrüchen zu sein. Aber es gab keinen Flugzeug-, keinen Bombenlärm, kein Flakfeuer. Um ihn herum schrien keine verängstigten Babys, Kinder, Erwachsene. Er war wie der erste Mensch, der nicht im Garten Eden, sondern im Erdinneren geboren worden war. Die Stille wurde kaum vom fernen Rauschen der Wasserspülung gestört, die Anneliese Tag und Nacht mit der Genauigkeit eines Metronoms alle zwei Stunden betätigte.
    Angelika würde hier als Einsiedlerin leben. Außer ihm würde sie nie jemanden sehen. Wenn die Hormone sie plagten, müsste sie auf jeden Fall Verlangen nach ihm haben. Ein natürlicher Inzest, der bis zum biblischen Beginn der Menschheit zurückreichte. Die Kinder von Adam und Eva kopulierten unablässig mit dem löblichen Zweck, sich fortzupflanzen, um die Art zu erhalten. Zum ersten Mal keimte in ihm die Idee, mit Angelika eine Familie zu gründen. Eine zweite Familie, die ihm noch mehr gehörte als die erste, weil sie aus der Vereinigung des Erzeugers mit seinem eigenen Fleisch und Blut hervorgegangen wäre. Eine Nachkommenschaft ohne einen Tropfen Mischblut.
    ,,Ich habe einen schönen Traum verwirklicht.“
    Die Polizei ließ ihn diesen Satz wiederholen, den er leise und mit geschlossenen Lidern vor sich hin gemurmelt hatte, als wäre er aus den Tiefen seines Unterbewusstseins gekommen und als hätte auch er selbst ihn zum ersten Mal gehört.
    ,,Ein Traum.“

Mit dem lässigen Gang eines Mannes, der seinen Fantasien nachhängt, stieg er wieder die Treppe hinauf und setzte sich in sein kleines Büro im Erdgeschoss, dessen enge Nebenkammer damals noch nicht Christofs Zimmer gewesen war.
    Indem er einen Schutzbunker statt eines Verlieses baute, könnte er fünf Jahre lang von Steuerabschreibungen profitieren, die der Staat seit der Kubakrise 1962 gewährte, um die Österreicher dazu zu ermutigen, an den nationalen Bemühungen zur Verbesserung der passiven Verteidigungsanlagen teilzunehmen.
    Fritzl schlug sein Skizzenheft auf, das voller Bleistiftzeichnungen war. Man konnte darunter verschiedene Gefängnisse erkennen, über deren Bau er bis dahin nachgesonnen hatte. Er arbeitete bis zum späten

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