Claustria (German Edition)
absolutes Glück. Angelika nahm sie mit in den Keller. Erinnerungen an Luft, Sonne, Wind, Liebe. Nicht viel mehr, um vierundzwanzig Jahre lang schöne Träume davon zu haben.
Polizisten stehen vor dem Haus. Sie klingeln, nehmen Angelika die Handschellen ab. Anneliese unterschreibt das Protokoll und nimmt ihre Tochter entgegen. Sie wartet, bis der Wagen mit brüllender Sirene abfährt, um einen Laster zu vertreiben, der die Kreuzung verstopft.
Anneliese ohrfeigt Angelika ausgiebig, bringt sie in die Wohnung. Oben verprügelt sie sie. Angelika weint still, kein einziger Schrei, nur das Klatschen der Schläge hallt im Zimmer wider. Angelika unternimmt nichts, ein Rest Schuldgefühl verhindert, dass sie sich wehrt. Sie wankt, lässt sich aufs Bett fallen, als ihre Mutter außer Atem den Raum verlässt.
Fritzl ist auf Geschäftsreise in Berlin, Anneliese hat die Fensterläden von Angelikas Zimmer geschlossen und ihre Tochter eingesperrt. Ohne ein Wort bringt sie ihr von Zeit zu Zeit den Rest der Mahlzeiten. Wenn Angelika mit ihrer Mutter reden will, bringt sie sie mit einer Watschen zum Verstummen. Die Geschwister respektieren den Hausarrest, schweigend gehen sie an Angelikas Tür vorbei und reagieren nicht auf ihr Flüstern, das zwischen Tür und Boden hindurchdringt.
Sie ist in Isolationshaft. Durch die Ritzen in den Fensterläden blickt sie in den Himmel. In der ersten Nacht hört sie Thomas von der Straße heraufrufen. Sie traut sich nicht, ihm zu antworten. Sie sieht ihn an, sieht seine Umrisse im Fensterrahmen. Am nächsten Tag kommt er wieder, sie wirft ein Briefchen für ihn durch einen Spalt. Der Wind weht es weg, er läuft hinterher, aber der Zettel verschwindet in Fritzls Garten.
Am Morgen wird Anneliese ihn finden. Er ist feucht vom Tau, die Tinte verlaufen. Sie kann einen Satzfetzen entziffern:
… und mich weit wegbringen von diesem Irrenhaus.
Die Mutter kommt ins Zimmer. Schreit, schlägt, schüttelt Angelika. Sie hat Fritzl bereits im Hotel angerufen.
,,Loch sie im Keller ein. Sie ist genauso verrückt wie meine Mutter.“
Sie packt ihre Tochter mit beiden Händen.
,,Dein Vater hat recht, du bist verrückt. Und Verrückte sperrt man ein.“
Angelika schlägt zurück. Mit der Nachtkästchenlampe aus rotem Blech versetzt sie ihrer Mutter einen Hieb an der Stirn. Anneliese tritt um sich schlagend den Rückzug an, sie kann ihrer Tochter die Tür gerade noch vor der Nase zuschlagen und zweimal zusperren.
Kurz darauf kommt Anneliese mit Christof zurück. Der Dreizehnjährige ist schon ein kleiner Mann und stämmig genug, um ihr als Handlanger zu dienen. Angelika liegt erschöpft zusammengerollt auf dem Bett. Ein Kampf, sie wehrt sich, ruft um Hilfe. Ein Mieter – er wollte nicht fotografiert werden und einem Journalisten aus Quebec, der dessen Aussage ein paar Tage nach Fritzls Verhaftung aufgestöbert hatte, auch seinen Namen nicht nennen – wird sich erinnern, das Trio oben auf der Treppe gesehen zu haben.
,,Haben Sie eingegriffen?“
,,Jeder erzieht seine Kinder, wie er will.“
Sie schafften Angelika in den Keller. Sie war zäh, Christof tat sein Möglichstes, um ihrer Herr zu werden, während die Mutter sie mit Watschen traktierte. Sie ließen sie in der Schleuse zwischen zwei Stahltüren liegen.
Dunkelheit, nichts zu essen, nichts zu trinken, keine Matratze, keine Toilette. Schreie drangen bis zum Abend durchs Haus, dann verstummte Angelika aus Erschöpfung und schlief auf der gestampften Erde ein.
Fritzls Rückkehr am übernächsten Tag. Mit leisen Schritten geht er in die Dunkelheit hinunter. Schaltet das Licht an. Reißt die Tür auf. Angelika fährt aus dem Schlaf auf.
Sie friert, obwohl es Sommer ist, aber sie zittert aus Angst, auf ihrer Stirn perlt der Schweiß. Sie macht den Mund auf, die trockene Zunge bleibt zwischen Ober- und Unterkiefer in der Schwebe hängen. In ihrem Kopf ist alles erstarrt, kein Wort fällt ihr ein. Sie steht auf. Ein gruseliges Bild, das er mit steifem Schwanz betrachtet.
Er geht auf sie zu, seine Augen nur Schlitze. Katzenblick. Er geht um sie herum wie ein Kunde um ein Auto im Schauraum eines Vertragshändlers. Kein Wort, kein Schlag, er mustert sie von oben bis unten. Ihr ist, als würde er gleich seinen Zollstock aus der Tasche ziehen und Maß für ihren Sarg nehmen.
Seine Hand streckt sich nach ihr aus, sie will zurückweichen, lässt es aber schleunigst sein, aus Angst, Öl ins Feuer zu gießen. Mit den Fingerspitzen streicht er über ihr Gesicht
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