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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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frisch, putzte sich die Zähne, trimmte seinen Schnauzbart und rasierte sich nass, nachdem er sich bereits in der Flugzeugtoilette trocken rasiert hatte, weil er sich nicht nass machen und nicht das Salz von seinem letzten Bad im Meer abspülen wollte.
    Er zog einen weißen Anzug an, leicht wie das Seufzen der Flöte, die er in einem Suq gekauft hatte, ein granatrotes Hemd, gepunktete Krawatte, neue Schuhe, die bei jedem Schritt knarrten.
    Nach beendeter Wohnungsreinigung war Thomas sang- und klanglos gegangen und schlief bei sich zu Hause. Angelika war von dem Geräusch des Schlüssels ihres Vaters im Schloss aufgewacht. Mit geschlossenen Augen wartete sie auf den Sturm und hoffte, wieder einschlafen zu können, damit sie die Gnade hätte, zusammengeschlagen im Schlaf zu sterben.
    Hin und wieder schlug sie die Lider auf und sah auf die Uhr auf dem Nachtkästchen. Der Morgen brach an, der Morgen verging. Um halb zehn hörte sie die Wohnungstür und die Schritte ihres Vaters auf der Treppe, die Haustür öffnete und schloss sich.
    Sie packte eine Sporttasche. Toilettenartikel, ein paar Kleider, ein halb gelesenes Taschenbuch – ein Liebesroman –, Kassetten von Julio Iglesias mit deutsch gesungenen Schlagern, Münzen, die sie in einem Glas gesammelt hatte und nun in ein geblümtes Mäppchen leerte.
    Sie ging auf den Gang, rannte die Treppe hinunter, lief schnell ins Stadtzentrum. Instinktiv suchte sie die schützende Menge, einen menschlichen Schild gegen die Übergriffe eines Mannes, der bestimmt entschlossen war, sie wegen der Vergehen zu töten, die sie im Elternhaus zugelassen hatte.
    In Wirklichkeit waren nur eine Handvoll Leute auf dem Platz und in den Gassen. An einem Brunnenrand holte sie Luft.
    Sie hatte Angst, in einem geschlossenen Raum zu sein mit Mauern, die sie umgaben. Dann hätte Fritzl sie sich nur vorknöpfen müssen. Sie hatte bloß zweihundert Schilling bei sich, das reichte nicht, um den Zug zu nehmen und in Wien herumzuvagabundieren. Sie hatte Angst, zu Thomas zu gehen. Fritzl hatte sicherlich Nachforschungen angestellt und kannte die Adresse seiner Hinterhofwohnung. Sie schleppte ihre Tasche durch die Stadt.
    Vor Erschöpfung beruhigte sie sich schließlich und sagte sich, dass ihr Vater sich wohl mit einer Schimpftirade und einem Schwall Schlägen begnügen würde, sie würde das Ganze mit blauen Flecken, aber lebend hinter sich bringen.
    Um vierzehn Uhr trat sie im Wirtshaus ihre Arbeit an. Thomas zog in der Abstellkammer, die dem Personal als Garderobe diente, gerade seine Kellnerweste an. Angelika fiel ihm in die Arme.
    ,,Was hast du mit der Tasche vor?“
    ,,Ich gehe weg.“
    ,,Ist dein Vater zurück?“
    Sie weinte.
    ,,Hat er dich angeschnauzt?“
    Der Wirt kam zerzaust herein.
    ,,Beeilung, ich bin ganz allein und muss die Nachspeise servieren!“
    Angelika rieb sich das Gesicht mit einem Feuchttuch ab, trug Lippenstift auf. Thomas wartete, bis sie umgezogen war, dann gingen sie zusammen in den Gastraum hinaus und zur Küche. Sie bedienten die Gäste. Um zweiundzwanzig Uhr verließen sie das Wirtshaus im Gewitter.
    Sie schlief bei Thomas. Ein schmales Bett. Nach der Liebe blieben sie aneinandergeschmiegt liegen. Friedvoller Schlaf, keinerlei Albträume in der vom Regen abgekühlten Nachtluft, der Wind wehte durch das Gitter vor dem Fenster herein, das vor Eindringlingen schützte.
    Frühstück mit Cornflakes, die in einer Schüssel Cola schwimmen.
    ,,Das schmeckt besser als mit Milch.“
    ,,Auch mit Bier ist es gut.“
    Angelika lacht. Der Vater ist weit weg, ein verschwommenes Gesicht, mit so wenig Relief wie die Bildnisse auf den Münzen in ihrem Mäppchen. Er gehört der Vergangenheit an – die man jeden Morgen abschüttelt, wenn man sieht, dass der neue Tag angebrochen ist. Ein Vater, der nach und nach von der Zukunft aufgezehrt wird, Krümel, die das Grab verschlingt, und Angelikas Bahn im Licht der Jugend, die nicht so dumm wäre, sich von den Jahren auffressen zu lassen. Sie war weg, nie wieder würde sie in dieses Haus zurückkehren, dessen Gesetz Unbeschwertheit und Freude untersagte.
    ,,Meinst du, es gibt hier im Viertel Zimmer zu mieten?“
    ,,Du kannst hier schlafen.“
    ,,Wie ein richtiges Paar?“
    Ein Wort wie ein Staatsstreich. Die Wiederauferstehung ist geglückt, die Familie vertrieben, machtlos, entwaffnet. Ein Land, das dem Nichts entsprungen ist, mit eigenen Bräuchen, Lustbarkeiten und weichen Gesetzen, die es selbst aufgestellt hat. Ein Gebiet, so groß wie ein

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