Claustria (German Edition)
sollte sie ihn noch immer tragen. Er war abgenutzt, das Silber abgeblättert, es war nur mehr ein Messingring.
Thomas schrieb ihr ins Spital:
Ich dachte, Du wärst mit einem anderen abgehauen.
Dem Brief fügte er ein Foto seiner Familie bei. Ein dicker Mann mit schütterem Haar auf einem Sofa zwischen zwei Heranwachsenden im Fußballtrikot.
Ich bin geschieden.
Sie schrieb nicht zurück. Sie hatte keine Lust, ihrer Vergangenheit zu begegnen. Eine fette, fast kahle Liebe, bei der die Freiheit sich als unfähig erwiesen hatte, die Frische zu bewahren.
Wir kontaktierten Thomas über seine Facebook-Seite. Er erklärte sich bereit, uns zu treffen. Eine Adresse am Stadtrand von Baden. Steinhaus, geschlossene Tür aus lackiertem Holz, geschlossene rote Fensterläden. Ein Rasenmäher, verlassen auf dem kurz geschorenen Rasen im Regen. Wir klingelten, klopften, riefen.
Wir warteten im Auto. Seine Telefonnummer hatten wir nicht. Ich schickte ihm E-Mails auf seine Site, er antwortete nicht.
Nach einer Stunde gingen wir wieder.
,,Vielleicht ist er krank geworden.“
,,Seine Witwe hätte uns eine Nachricht hinterlassen können.“
Nina lachte nicht, sie starrte auf die graue Straße, auf der ein Laster um die Pfützen herumtanzte.
Am selben Abend noch wurde Thomas’ Facebook-Seite vom Netz genommen.
Gegen Abend kamen einige Jugendliche betrunken zurück. Sie stießen gegen die Möbel, holten aus dem Kassettenrekorder alles heraus, indem sie ihn voll aufdrehten. Sie rollten den Teppich zusammen und fingen an, zu tanzen und auf dem Parkett herumzuhüpfen. Annelieses Schimpfen ließ sie kalt, sie tanzten auch trotz Angelikas und Thomas’ Einwänden weiter.
Anneliese war am Ende mit den Nerven und brüllte.
,,Schleicht euch! Haut jetzt ab! Wollt ihr euch wohl schleichen?“
Sie packte sie am Kragen und zog sie nacheinander aus dem Zimmer. Lachend ließen sie die Frau machen. Ein paar Minuten später standen sie vor der Tür. Angelika bekam eine Ohrfeige, und Thomas flog beschämt hinaus, weil er nicht die Courage gehabt hatte, seine Schöne zu verteidigen.
Als Fritzl nach Hause kam, informierte Anneliese ihn über die Katastrophe.
,,Soll sie sich doch ein bisschen amüsieren.“
Anneliese nickte unterwürfig und verdattert.
Seit Angelikas Flucht hatte Fritzl sich ihr nicht mehr genähert. Er tauchte nicht mehr hinter dem Glasperlenvorhang auf, wenn sie duschte, und wenn er ihr auf dem Gang begegnete, behielt er seine Hände bei sich. Ihr Zimmer blieb die ganze Nacht ein Rückzugsort, wo sie sich bis zum Morgen in Frieden ausruhen konnte.
Er sprach mit ihr, ohne zu schreien.
,,Bald überschreitest du die Grenze der Volljährigkeit.“
Sie stellte sich neugierige alte Männer vor, die sie an der Grenze befummelten.
,,Deine Kindheit wird dir weit weg vorkommen.“
Sie sah ein Baby, das man irgendwo in der Landschaft ausgesetzt hatte.
Am 3. August wurde die Familie wie jedes Jahr in die Berge verfrachtet. Nach ein paar Wochen des Nichtstuns fing Angelika wieder an, im Wirtshaus zu arbeiten. Thomas hatte sich eine unglaubliche Geschichte ausgedacht.
,,Wir wollten übers Wochenende wegfahren. In den Bergen ist das Motorrad liegen geblieben. Wir mussten auf das Ersatzteil warten.“
,,Ihr hättet mit dem Zug zurückfahren können.“
Der Wirt war zu faul gewesen, eine Stellenanzeige aufzugeben und Angelika zu ersetzen. Sie ging wieder an die Arbeit, als sei nichts gewesen.
Sie war mit ihrem Vater allein in Amstetten. Nach dem Abendessen kam er nach Hause. Wenn sie dann mit Thomas heimkam, schlief er oft schon. Sie wurden von nervösem Lachen gepackt, wenn sie die Treppe hinaufsteigen, und hielten sich gegenseitig den Mund zu, um es zu ersticken. Am nächsten Morgen verließ Fritzl früh das Haus, die beiden standen gegen Mittag auf und begegneten ihm nicht.
Am 12. August fuhr Fritzl mit seinem brandneuen Rollkoffer nach Wien, von dort wollte er für zehn Tage nach Agadir in den Urlaub fliegen. Am Abend zuvor hatte er auf Angelika gewartet, bevor er schlafen gegangen war. Wie um sie zu warnen, war er mit schweren Schritten durch den Gang gekommen und hatte ihr die Tür aufgemacht. Thomas konnte im Treppenhaus gerade noch ein paar Stufen hinuntergehen und sich an die Wand drücken.
Fritzl hatte Angelika an der Hand ins Wohnzimmer geführt und sich neben sie aufs Sofa gesetzt.
,,Ich vertraue dir. Du bist alt genug, um allein zurechtzukommen.“
Er hatte sie auf die Stirn geküsst.
Fritzl verließ am Morgen
Weitere Kostenlose Bücher