Claw Trilogy 01 - Fenrir
sollte, aber eines war sicher. Der Wolfsmann war zuversichtlich, die Edelfrau aus Paris holen zu können, und der Prinz riskierte bei alledem nur das Leben eines gescheiterten Händlers.
39
Das ewige Lied
W asser und Dunkelheit. Kälte und Lärm. Jemand sang. We r war es? Jehan konnte nichts erkennen. Er war festgesetzt, die Hände hinter dem Rücken gebunden, und hockte bis zur Brust in kaltem Wasser. Neben ihm sang jemand. Ein Choralgesang. Die Worte schienen seltsam gedämpft. Ein leises Echo war zu hören, das an eine niedrige Decke denken ließ.
»Dass du nicht erschrecken müssest
Vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen,
Die des Tages fliegen, vor der Pestilenz,
Die im Finstern schleicht, vor der Seuche,
Die im Mittage verderbt.«
Die Stimmen der Sänger bebten und hielten die Töne nicht recht, aber Jehan konnte erkennen, dass sie in der mönchischen Vortragsweise geübt waren. Sie sangen einen Psalm. Er fühlte sich seltsam und wusste nicht einmal, ob er wachte oder träumte.
»Wer ist da?«, fragte Jehan.
Der Hunger in ihm hatte keineswegs nachgelassen. Er spie aus und hatte einen üblen Geschmack im Mund. Gift. Ja, man hatte ihn vergiftet. Er erinnerte sich an die Wikinger im Wärmeraum. Das Gift auf den Lippen hat sie nicht umgebracht … erst der Rauch hat sie erstickt. Der Gedanke kam und ging wie ein Fußabdruck im Sand, fortgeschwemmt von der kalten Woge des Hungers.
Einer hörte zu singen auf. »Die Brüder Paul und Simon. Wer bist du?«
»Bruder Jehan aus Saint-Germain.« Es war, als müsste er gegen einen kräftigen Wind anbrüllen. Er litt Höllenqualen und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.
»Der Beichtvater aus Paris?«
»Ja.«
»Bist du gekommen, um uns zu retten?«
»Ich kann euch nicht retten.«
Der Mann auf der rechten Seite sang weiter:
»Ob tausend fallen zu deiner Seite
Und zehntausend zu deiner Rechten,
So wird es doch dich nicht treffen.«
»Bist du stark genug, um zu singen, Bruder? Wir dürfen das Lied nicht unterbrechen. Dieser Schrecken sucht uns nur heim, weil wir zu singen aufgehört haben.«
Jehan konnte nicht antworten. Er bewegte das Bein hin und her und stieß an etwas Schweres.
»Wir müssen sterben«, fuhr der Mönch fort. »Dem Herrn sei Dank für das Geschenk unseres Märtyrertums.« Die Worte waren tapfer, aber die Stimme bebte. Jehan konnte erkennen, dass der Mann fror. Auch Jehan war es kalt, sehr kalt.
»Wo sind wir?«
»In der unteren Höhle am Brunnen Christi.«
Der Psalm ging weiter:
»Ja du wirst mit deinen Augen deine Lust sehen
Und schauen, wie den Gottlosen vergolten wird.«
»Wo ist das?«
»Es gibt einen Tunnel, der in der Krypta beginnt. Von dort aus geht es hierher hinab, es ist ein heiliger Brunnen unter der Erde. Die Nordmänner haben uns ohne Mitleid hingemetzelt. Er ist jetzt verseucht.«
Etwas prallte gegen den Arm des Beichtvaters, etwas anderes kitzelte seine Hand. Gras? Nein, dahinter war etwas Festes. Jehan packte zu und tastete es ab. Er bemerkte etwas Hartes und etwas Weiches, einen Halbkreis von Erhebungen und Hügeln, und ließ wieder los. Er hatte Haare gespürt und mit den Fingern die Zähne betastet.
»Kannst du dich bewegen?«, fragte Jehan.
»Nein. Bist du nicht gefesselt?«
»Ich bin gefesselt.«
»Dann ist es sinnlos. Er wird uns schon erwarten. Er will, dass wir hier sterben.«
Jehan schluckte, auch er zitterte jetzt. Rechts neben ihm geriet das Lied ins Stocken.
Er beugte sich vor und hustete. Etwas lag um seinen Hals. Eine Schlinge. Er drehte den Kopf, um sich zu befreien, aber das machte es nur noch schlimmer. Sie saß jetzt fester, drückte ihm noch nicht die Luftröhre zu und schnitt ihm nicht das Blut ab, aber er wusste, dass schon die nächste Bewegung ihn umbringen konnte.
Dann sah er es. Ein Licht näherte sich. Es war eine Kerze. Gewiss hatte einer der Mönche überlebt, oder die Wikinger waren das Warten leid geworden und brachen ein. Nun konnte er auch erkennen, wo er saß. Es war ein Becken in einer natürlichen Höhle, die Decke befand sich in Reichweite über seinem Kopf. Drei große Säulen aus Kalkstein erstreckten sich von der Decke bis zum Wasser, und an sie hatte man die Gefangenen gebunden. Rechts sang der verzagte Mönch und stotterte die Worte des Psalms hervor. Links war ein weiterer, dickerer Mönch. Die Männer schnatterten und bibberten in der Kälte.
Ringsherum trieben oder hingen Tote im Wasser, so bleich wie tote Fische in einem Teich. Die Körpersäfte, ob
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