Claw Trilogy 01 - Fenrir
bekäme man noch weitaus schlimmere Ketzereien zu hören. Aelis hatte der Hinrichtung nicht beigewohnt, denn sie war zu jung gewesen und hatte sowieso nicht die rechte innere Widerstandskraft für derlei Dinge besessen. Die Diener hatten ihr erzählt, der Prediger habe keine Furcht gezeigt und erklärt, die Welt und sein Fleisch seien mit der Göttlichkeit auf die gleiche Art verwandt, wie ein Gemälde mit dem verbunden sei, was es zeige. Er fürchtete den Verlust nicht mehr als den Anblick eines Kindes, dessen Puppe zerbricht.
Die Erinnerungen jagten einen Kälteschauer durch Aelis. Ihr Geist schien wie ein geplündertes Haus, der Inhalt zerschmettert und durcheinandergeworfen, während sie zugleich eine neue Klarheit heraufdämmern sah. Sie konnte Dinge in Verbindung bringen, die sie vorher nie miteinander verknüpft hatte, und eine Wahrheit spüren, die bedeutender war als alles, was sie bisher erfahren hatte. Der Prediger hatte recht gehabt, das spürte sie nun tief im Herzen. Die Welt war ein Gemälde, von dem jetzt die Pigmente abgewaschen wurden. Aber was lag darunter? Die Höhlen, diese Gestalt in ihren Armen und die schrecklichen Symbole, die in ihrem Kopf zischten und spuckten, leuchteten und klingelten, und vor allem diese Männergestalt mit dem Wolfskopf, die sie in den Träumen beobachtete und ihr Liebesworte ins Ohr flüsterte?
Ihr Herz raste, und sie schwitzte trotz der Kälte. Sie hatte Angst, aber nicht vor den Wesen, die sie verfolgten, oder vor der öden Nacht und den fremden Männern, die sie umgaben. Was fürchtete sie denn eigentlich? Sie versuchte, einen Namen dafür zu finden. Das Schicksal? Die Bestimmung? Oder nur die Zeit, die wie eine drückende Last ihre Bewegungen hemmte? Sie entwickelte ein Gefühl für die unendliche Dunkelheit vor ihrer Geburt. In dieser vermeintlichen Leere tauchten auf einmal gespenstische Gesichter auf. Alles, was sie bisher gekannt hatte, erwies sich als falsch, oder es war mindestens viel komplizierter und gefährlicher, als sie angenommen hatte.
Was war nun mit diesem Mann, den sie in der Vision in den Armen gehalten hatte? Was war mit dem Raben? Dort am Flussufer, als das Feuer vor ihr knackte, als sich die Feuchtigkeit des Frühlingsabends kalt auf ihrem Hinterkopf niederschlug, als sie die Zweige und Steine unter sich auf dem unebenen Boden spürte, als die Fischer vor ihr saßen und der Händler nervös den Himmel nach Vögeln absuchte, da hatte sie Angst vor ihm. Aber sie hatte eine Vision gehabt, die ihr realer erschienen war als das Boot, der Fluss, Leshii und das Maultier. Mit diesem Mann, den sie in ihren Armen gehalten hatte, war sie durch etwas verbunden, das über Schicklichkeit, Familie oder gesellschaftliche Stellung hinausging. Genau das, was Judith veranlasst hatte, mit Eisenarm wegzulaufen, genau das, was der kleine Händler, der mit seinem Turban, den weiten Hosen und dem Spitzbart wie ein Feuerkobold vor ihr saß, ersehnte, aber nie fühlte, und was die Fischer nicht einmal in den kühnsten Träumen sahen, da sie doch so sehr an das Leben zwischen Netz und Boot, zwischen Hunger und Überfluss gebunden waren.
Aelis spürte es schon seit der Kindheit im Herzen. Sie war unvollständig. Jetzt wusste sie, warum sie in der Nacht in Loches umhergelaufen war, warum sie in ihren Träumen immer etwas suchte und nie etwas fand. Sie hatte ihn gesucht. Zu welchem Zweck? Damit sie starb? Nein. Was dann? Sie hatte keine Ahnung und konnte es nicht benennen. Trotzdem, sie vermochte das Gefühl nicht abzuschütteln, dass sie nur seinetwegen nachts barfuß an der dunklen Indre entlanggelaufen war. Ihn hatte sie gesucht, als sie im Traum durch Gänge und Höhlen geirrt war. Das fand sie schrecklicher als alles andere. Die Tränen rannen ihr über das Gesicht, als sie ins Feuer starrte.
In den Hügeln rief ein Wolf. Irgendwie glaubte Aelis zu verstehen, was er sagte. Sie sprach die Worte, während sie in die Flammen blickte: »Ich bin hier. Wo bist du?«
43
Der Anblick eines Ungeheuers
D ie Hände des Raben hatten gezittert, als er den Pfeil eingelegt hatte, um den Mönch an der Tür zu töten. Doch er hatte den Pfeil abgeschossen, und der Schaft war am Halsansatz mitten durch die Kehle des Mannes gefahren. Die Hände hatten ihm auch gezittert, als er Grettirs Männer hineingeführt hatte, wo sie die am Altar singenden Mönche niedergemacht hatten. Unter den Hieben und Streichen seines furchtbaren Krummschwerts hatte das unendliche Lied ein Ende gefunden.
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