Claw Trilogy 01 - Fenrir
nicht gebeten, eine Geschichte zu erzählen«, wunderte sich Leshii. Dank ihrer Reisen waren Händler beliebte Geschichtenerzähler, und die Leute brannten gewöhnlich darauf, Abenteuer aus fernen Ländern zu hören.
Der Rabe schwieg.
»Dann erzähl du mir eine«, sagte Leshii. »Komm schon, ich habe so oft Geschichten erzählt, und meine eigenen langweilen mich allmählich.«
Der Rabe nagte an dem Entenflügel, den er sich genommen hatte. »Ich habe keine Begabung dafür«, wehrte er ab.
»Du brauchst keine Begabung. Erzähl mir einfach von dir selbst. Wie bist du ein so mächtiger Mann geworden?«
Der Rabe warf die Überreste des Flügels ins Feuer. Es war fast, als hätte der Händler seine Gedanken gelesen, denn er dachte an die Berge, wie er sich aus dem Kloster davongeschlichen hatte, an sein Heim im Tal mit seiner Schwester und die seltsame Frau mit dem verbrannten Gesicht, die sich in Höhen begab, die niemand sonst aufsuchte.
Die Wege waren steil, die Geröllfelder anstrengend. Sie stiegen auf kleine Klippen hinauf und tappten durch sumpfiges Gebiet, überquerten gefährliche Abhänge, wo sie immer nur einen Schritt davon entfernt waren, ins Bodenlose zu stürzen, liefen über Schneeflächen und drangen immer höher hinauf in den Nebel vor. In der Dämmerung, das Licht war hellgrau wie Froschlaich, erreichten sie die Höhle. Der Zugang führte über einen gefährlichen Pfad an einem mächtigen Wasserfall entlang. Dort hatte sie ihnen Brot, Pökelfleisch und seltsam bleiche, fast durchsichtige Pilze gegeben, die ihn an die bleiche Haut des Abtes erinnert hatten, wie er auf dem Bett gelegen hatte, das Halsband des Totengottes um den Hals.
Er hatte das unter ihm liegende Land betrachtet. Niemand sonst stieg auf die Berge. Die Gefahr zu stürzen und die Anwesenheit der Berggeister schreckten die Menschen ab, und gute Viehweiden gab es hier ohnehin nicht. Als er über das Land blickte, gewann er ein Gefühl für die Weite der Schöpfung und seinen winzigen Platz in ihr. Sein Heim in dem Tal war alles, was er bisher gekannt hatte. Von hier aus aber konnte er den großen See sehen, der sich wie ein Meer nach Norden erstreckte. Er konnte auf die mächtige Bergkette hinabblicken, die sich nach Westen dahinzog, und in der Ferne fremde Orte und Täler ausmachen. Und dann war da der Wald, der riesige Wald.
»Hier«, sagte die Frau. »Hier werden die Götter mit dir reden.«
»Ich kann dich nicht verstehen, du sprichst die Worte falsch aus.«
Langsam sagte die Frau: »Die Götter sind hier.«
»Ich habe Angst«, gab seine Schwester zu. Sie hatte seinen richtigen Namen benutzt. Wie lautete er noch gleich? Louis. Jeder zweite Junge im Tal hieß so. Normalerweise nannten sie ihn nur »Wolf«, weil er so geschickt bei der Jagd war und schwarze Haare hatte.
»Du wirst deinen Bruder haben, an den du dich halten kannst«, erklärte die Frau. »Geh jetzt in die Höhle. Dir wird nichts Böses geschehen. Dies ist der erste Schritt auf deinem Weg als Dienerin.«
»Wem sollen wir dienen?«, fragte er, denn damals war er noch kühn.
»Du wirst schon sehen«, erwiderte die Frau. »Er wird mit dir sprechen. Die Dunkelheit ist wie die Erdkrume. Ihr seid die Samen darin.«
Sie waren noch Kinder und vertrauten ihr, also betraten sie die Höhle. Dann schichtete die Frau die Steine auf, um die Kinder drinnen einzusperren. Die Frau erklärte, sie sollten sich aneinanderklammern, und sie gehorchten, verängstigt in der Dunkelheit und Kälte, voller Furcht vor den Geräuschen aus der Erde, vor dem Stöhnen und Wehklagen, das klang wie ein schwankendes Haus im Sturm, vor den Blitzen und den Funken, die in den Ecken tanzten und doch kein Licht spendeten, in dem man etwas sehen konnte. Sie schluchzten, litten großen Hunger und entsetzlichen Durst, leckten sogar die Felsen ab, um etwas Feuchtigkeit zu finden, und weinten tränenlos.
Es blieb lange still, bis seine Schwester das Schweigen brach.
»Wolf.«
»Ja«, sagte er heiser.
»Wer ist hier bei uns?«
»Wir sind allein.«
»Nein, hier ist noch jemand. Hier, fühle es.«
Sie nahm seine Hand und legte sie auf den Fels, doch außer glattem, kaltem Stein spürte er nichts.
»Da ist nichts.«
»Es ist ein Toter. Spürst du nicht das Seil um seinen Hals? Berühre die kalten Augen. Hier. Fühlst du es nicht? Ein Toter ist bei uns.«
»Da sind nur Stein und Dunkelheit, Ysabella.«
Seine Schwester schluckte schwer, ihre Hand zitterte in der seinen.
»Er ist hier.«
»Wer
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