Claw Trilogy 01 - Fenrir
einträchtig neben dem, was noch nicht geschehen ist, und wenn der Geist befreit von Zeit und Persönlichkeit schweifen kann, betritt er fremde Hallen, in denen das Vertraute und das Fremde nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Dort gehen Geister und Visionen Hand in Hand. Aelis taumelte in den Schlaf und stürzte zu diesem Ort, ins Grenzland des Bewusstseins wo die Magie lebt.
Sie hatte das Gefühl, wieder aufzuwachen. Der Wärmeraum war leer, und obwohl das Feuer nur noch eine schwache Glut war, kam ihr der Raum unerträglich heiß vor. Sie ging zur Tür und öffnete sie, um das kalte Licht des silbernen Mondes zu trinken. Aelis war nicht allein, das spürte sie. Erinnerungen verfolgten sie. So war sie schon einmal gewandelt, verzaubert in der kühlen Nachtluft im Garten von Loches.
Im Kreuzgang des Klosters war es still. Ihr Blick fiel auf eine Ecke und eine Tür, die sich in die andere Richtung öffnete. Das Skriptorium, der Wärmeraum, aus dem sie gerade gekommen war, die Küche und die Kapelle, sie alle besaßen Türen, die sich zum Kreuzgang öffneten und drinnen keinen Platz wegnahmen. Nur eine Tür öffnete sich in den Raum hinein. Warum unterschied sich diese Tür von den anderen?
Zielstrebig ging sie darauf zu. In die Tür war ein Guckloch eingelassen, das Aelis anzog. Sie bewegte die Hand zu der Öffnung und bemerkte drinnen eine Bewegung. Ein Hauch von Nebel? Ihr Atem gefror in der Luft und stand als weißer Dampf im Mondlicht. Sie schauderte. Es war kalt geworden, ihre Hand zitterte.
In ihrem Innern schien etwas aufzuleuchten, als hätte es auf die Kälte reagiert, die sie nun überkam. Es war eines der Symbole, ein gezacktes S, aus dem das Licht der Sonne zu erstrahlen schien, um sie zu wärmen und die Kälte zu vertreiben. Ein weiteres Symbol, das an einen grell leuchtenden Diamanten erinnerte, flammte in ihr auf. Sie spürte die tiefe Erde unter den Füßen und eine Bewegung im Land, ähnlich den Meeresströmungen, die gegen die Wurzeln der Berge schwappte und in reißenden Wirbeln abwärts in die dunkle, leere Tiefe stürzte.
Es war, als stächen ihr unzählige kleine Nadeln in die Haut. Ein Geruch wie an der Meeresküste erfüllte die Luft. Die Symbole in ihr schienen zu rufen, und das Kältegefühl war die Antwort. Eine Erinnerung erwachte. Sie wandelte im Garten von Loches unter einem großen Mond und hielt eine Rose in der Hand, die so groß war wie der Kopf eines Kindes. Der starke Duft war berauschend. Auf einmal zuckte sie zusammen, denn sie hatte sich an einem Dorn gestochen. Das Blut lief in dicken Tropfen an ihrem Finger herunter. Sie steckte ihn in den Mund. Immer noch drang der süße, irgendwie auch drohende Rosenduft in ihre Nase ein, vermischte sich mit dem Geschmack von Blut und weckte die Erinnerung an Schmerzen.
Sie drehte sich um und ließ den Blick durch den Kreuzgang wandern. Im Schatten standen zwei Gestalten. Die erste war eine Frau in einem hellen Hemd, deren Gesicht an einen vernarbten Bimsstein erinnerte, wie man sie am Strand findet. Sie hielt ein langes, schmales Messer in der Hand. Zitternd kratzte sie mit der Klinge an ihrem Bein herum. Dort war das Hemd zerrissen und blutig. Um den Hals trug sie ein dünnes Seil mit einem komplizierten Knoten, bei dessen Anblick Aelis schauderte. Die Gestalt neben ihr war ein etwa zwölfjähriger Junge, der dem Aussehen nach zu der dänischen Kriegertruppe gehörte. Seine Augen waren tot, auf den Wangen hatte er zwei kleine punktförmige Verletzungen. Er hatte der Hexe die Hand gegeben und führte sie ins Licht, bis Aelis sie deutlich sehen konnte.
»Meine Männer sind hier und werden dich schnappen, Hexe«, sagte Aelis.
Ein anderes Symbol blitzte in ihr auf. Es waren zwei aufrechte Linien mit einem X zwischen ihnen. Es war das Symbol des neuen Tages, der Offenbarung und der Klarheit. Aelis begriff, dass es sich in der Hexe befand. Es überwand die Dunkelheit wie der Sonnenaufgang und verschwand wieder, bis der Kreuzgang verlassen im Mondschein lag.
Aelis schrie auf. Überall lagen reglose Franken, teilweise grotesk verdreht, einige auf dem Bauch, andere den Blick nach oben gerichtet und die Arme ausgebreitet, als flehten sie die Sterne um Gnade an. Die Symbole verstärkten anscheinend auch ihre Wahrnehmungen, denn sie erkannte, dass die Farben der Männer, die nächtlichen Klänge, die von den Kriegern ausgingen, nicht die des Todes, sondern die des Schlafs waren. Die Franken waren verhext, aber sie lebten
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