Claw Trilogy 01 - Fenrir
mit einem Mädchen über einen Hügel lief. Sie war blond, ihr Gesicht konnte er nicht erkennen. Die Sonne schien auf die Wiesen, zwischen den Blüten summten Bienen. Er hörte Stimmen.
»Prinz, Prinz!« Ein Mann tauchte neben ihm auf, ein großer alter Nordmann mit einem in vielen Schlachten vernarbten Gesicht. Er kannte ihn nicht. »Wo ist dein Speer? Wo ist dein Bogen?«
Der Mann war verärgert, was Jehan jedoch keine Angst machte. War das eine vom Teufel gesandte Vision? Sie kam ihm so überzeugend vor.
Die Berge verschwanden, nun stand er vor einer Wasserfläche an einer kleinen Landestelle. Von See her strebten Wikingerschiffe zum Ufer. Wieder stand das blonde Mädchen vor ihm, hielt seine Hände und blickte ihm in die Augen.
»Töte hundert von ihnen für mich«, sagte sie.
»Ich kannte dich schon einmal.«
»Ich kenne dich schon immer.«
»Ich werde dich finden.«
»Das ist deine Bestimmung« sagte sie.
Jehan kam zu sich. Die Ecke der Zelle stank vor Kot und Urin, erbrochenes Blut war auf dem ganzen Boden verteilt. Wie lange war er schon dort? Eine lange Zeit, das spürte er. Er hörte die Rufe der Frau: »Ich sterbe.«
Es war Zeit zu gehen. Die Tür splitterte schon beim ersten Schlag. Er drosch noch einmal darauf, das Holz gab weiter nach. Die Mühe, die er mit dem Zertrümmern der Tür hatte, ließ ihn schier verzweifeln. Er blickte zum offenen Dach hinauf. Bisher war er noch nicht auf die Idee gekommen zu klettern. Die Wände waren glatt, also sprang er und stieß die langen starken Finger durch das Strohdach. Er zog sich hinauf und war draußen.
Über ihm hing der dicke runde Mond, am Himmel schwärmten die Sterne. Er fühlte sich, als sei die ganze Schöpfung zur Stelle, um ihn zu beobachten, als sei die Nacht eine Stadt, für die er als Kämpfer unter den ängstlichen Augen der Einwohner eine Schlacht schlagen sollte. Der kräftige Herzschlag dröhnte in seinen Ohren, und er witterte immer noch das Blut, als er auf dem kühlen Strohdach hockte.
Er blickte zum silbern schimmernden Sand. Dort unten geschah etwas, Gestalten bewegten sich dort. Seine Augen waren scharf, er konnte im Dunkeln gut sehen. Ein Mann rang mit einer großen Last. Jehans Ohren fingen die erschöpften Laute des Mannes auf, auch das Husten und Würgen der Frau, die er trug. Neben ihm standen sechs Gestalten. Aufrecht zwar, aber trüb und verschleiert. Dieses Gefühl hatte ihn im Kreuzgang geweckt. Er konnte spüren, worauf sich die Aufmerksamkeit aller Wesen in der Umgebung richtete und wusste, woran sie dachten, ohne sie überhaupt anzublicken. Auf eine eigenartige Weise unterschieden sich die sechs Männer dort unten von den anderen Menschen. Wenn er die Augen schloss, spürte er die Konzentration des Mannes, der die Frau vom Wasser wegschleppte, und die Verzweiflung der Frau in seinen Armen. Es war, als kämpfte sie darum, zu Sinnen zu kommen, den Strand wahrzunehmen und nicht den Verstand zu verlieren. Die Männer, die am Wasser warteten, diese sechs Gestalten, die unbeteiligt dem Mann und der Frau zusahen, wirkten abwesend. In gewisser Weise waren sie äußerlich dort, innerlich aber nicht.
Ein Mann schritt über den Sand. Er hatte ein Krummschwert, das im Mondlicht schimmerte. Da war auch eine Frau, die nach Blut und Dreck stank und die Hände nach dem Paar ausstreckte, das sich vom Wasser entfernte.
Jehan sprang vom Dach in die Dünen hinunter und eilte unter dem brennenden Mond zum Strand. Geduckt schlich er und glitt so schnell über den Sand wie der Schatten eines fliegenden Vogels.
57
Allein
A elis brach unter dem Ansturm der Bilder zusammen. Sie fühlte sich, als taumelte sie durch ein Dornendickicht, das ihr bei jedem Schritt die Haut zerkratzte. Die Furcht war ein körperlich spürbares Gefühl, kalt und hart. Sie sah den strahlend blauen Himmel über sich, spürte den Zug der Ebbe, die unter ihren Füßen den Sand mitschleppte, sah in ihren Visionen einen geopferten Mann, der an einem Baum hing. Die Äste des Baumes waren die Dunkelheit der Nacht, und die Blätter waren die Sterne. Sie spürte den stockenden Schlag seines versagenden Herzens, als sei es ihr eigenes, und den Drang, das zu werden, was sie sein konnte. Neue Gesichter tauchten am Strand auf, die sie eigentlich kennen musste, an die sie sich jedoch nicht erinnern konnte, da die Runen wie ein Wasserfall auf sie herabprasselten. Acht fanden acht und waren nun sechzehn – sie gurrten, sangen, riefen und jubelten in ihr. An der Indre hatte es,
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