Claw Trilogy 01 - Fenrir
war ihre Dienerin, nicht die Lehrerin. Das Mädchen hatte von Anfang an gewusst, was in ihm steckte – Tod, Leiden, schreckliche Prüfungen – , und wie man es erwecken konnte. Sie hatte ihn auf ihre Reise mitgenommen. Aber wozu?
Ysabella – Munin – war in seine Träume eingedrungen und hatte Aelis aus Paris und die Frau, die Aelis in früheren Leben gewesen war, verdrängt. Der Zauber war aufgehoben, und jetzt verstand Hugin genau, was er auf seinen Reisen mit dem Totengott gesehen hatte. Aelis war die Frau, für die er in einem früheren Leben gestorben war. Dieses andere Wesen hatte sich als seine Schwester ausgegeben und seine Liebe für Aelis missbraucht. Er hatte Munin geholfen, war bereitwillig mit ihr in die Dunkelheit gegangen, hatte neben ihr gelegen und war im Geist zu Orten gereist, wo sie ihren Zauber noch verstärken konnte. All das war jetzt zerfallen.
Er hatte schon einmal gelebt und war gestorben – für dieses Mädchen, das er verfolgt und belästigt, gequält und beinahe getötet hatte. Unter dem Zauberbann einer Hexe hatte er ein Bündnis verraten, das stärker war als der Tod.
Er spürte die wahre Identität seiner Schwester und ahnte, wer die wilde Frau gewesen war. Wenn nur seine Gedanken noch etwas klarer würden, könnte er sich wohl auch an die Namen erinnern. Doch sie klärten sich nicht, und er musste erkennen, dass die Liebe in seinem Herzen dem Hass wich, während Munins Zauber von ihm abfiel. Sie hatte ganz eigene Pläne verfolgt, die er nicht zu ergründen vermochte. Hatte sie sterben wollen? Nun, jetzt war sie tot.
Er erriet, was sich ereignet hatte. Munin hatte die Absicht gehabt, die Runen zu beherrschen. Durch Leiden und Hingabe hatte sie sich die Symbole aneignen wollen, ohne von ihnen zerstört zu werden, und sich Strategien überlegt, wie sie überleben konnte. Er bezweifelte nicht, dass sie anfangs nicht hatte sterben wollen. Doch die acht Runen, die sie dem Totengott weggenommen hatte, waren in ihr aufgeflammt und hatten nach ihren Geschwistern gerufen. Die Figuren strebten nicht nach dem Leben, sondern nach dem Tod. Munin hatte sich in diesen Ritualen selbst verloren und etwas anderes geweckt – das Bruchstück eines Gottes, der heil werden und sterben wollte. Im Reich der Menschen bot sich der Gott als Opfer an, damit er niedergemacht werden und im Reich der Götter leben konnte.
Aber wozu hatte sie ihn, Louis, gebraucht? Warum hatte sie ihn so nahe bei sich behalten? Er wusste, dass er eines gewaltsamen Todes sterben würde, das hatte sie vorhergesagt. Doch welchem Zweck diente sein Tod? Sie hatte dafür sorgen wollen, dass der Gott in ihr auf die Erde kam und unterging, um das Wissen des Todes zu erlangen. Welche Rolle spielte er selbst dabei? Egal. Sie hatte Aelis töten wollen, also musste er sich bemühen, das Mädchen am Leben zu halten.
Hugin kniete am Strand nieder und beobachtete Ofaeti, der mit zwei Pferden, auf die er Waffen und Rüstungen geladen hatte, aus dem Kloster zurückkehrte. Der Wikinger trug einen langen normannischen Mantel und hatte darüber den kürzeren Mantel eines fränkischen Edelmanns geworfen. Auch der Rest seiner Kleidung war fränkisch – ein blaues Seidenhemd mit einer Weste aus Rattenleder. Am Gürtel trug er ein gutes Schwert. Ofaeti wäre beinahe als Franke durchgegangen, doch kein Franke hatte je solche rotblonden Haare gehabt oder war so groß geworden. Ein wenig sah er auch genau nach dem aus, was er war – ein Pirat, der schöne Sachen gestohlen hatte. Der Händler kam ähnlich gekleidet hinter ihm her und führte eine Karawane von sechs Pferden.
Ofaeti winkte dem Raben zu. »Ich bin bereit, meinen Eid für die Edelfrau zu erfüllen.«
Der Rabe war endlich von Munins Verzauberung und den magischen Verstrickungen befreit. Ein Bild entstand in ihm: Er befand sich auf einem Berg und hielt die Hände einer Frau. Er konnte ihr nicht in die Augen blicken, weil er fürchtete, seine Liebe werde auf Ablehnung stoßen. Im Geiste hörte er seine eigene Stimme, einen Widerhall aus einem früheren Leben: Ich werde dich immer beschützen.
Er nickte dem großen Wikinger zu. »Und ich bin bereit für meinen eigenen Schwur.«
»Dann wollen wir aufbrechen und den Wolf erlegen«, sagte Ofaeti. Nach einem letzten Blick zu den am Strand liegenden Schiffen schüttelte er den Kopf und nahm im feuchten Sand die Spur des Ungeheuers auf, das im Wald verschwunden war. Der Rabe und Leshii folgten ihm.
61
Das verzehrende Jetzt
A m Abend saß
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