Claw Trilogy 01 - Fenrir
Aelis in den langen Lichtstrahlen neben Jehan, die Sonne ließ ihre hellen Haare aufleuchten wie einen Heiligenschein. Überall waren die Farben des Herbstes zu sehen, doch Jehan fror nicht. Er hatte sich einen dicken langobardischen Mantel über die Schultern geworfen, trug ein gutes Wollhemd, schöne Hosen und gute Stiefel. Er und Aelis waren nicht die ersten Menschen gewesen, welche die wilden Männer angegriffen hatten, aber die letzten.
Eine kleine Erinnerung erwachte – ein schwacher Nachhall von fernen Glocken, gesungene Gebete, Bruder Guillaumes unablässiges Husten während der Messe, ein Gefühl der Enge und von steifen Gliedmaßen, die sich bewegen wollten und es nicht vermochten. Andere Erinnerungen waren klarer: glitzerndes Wasser, ein grünes Flussufer. Ein Mädchen mit langem Haar, das in der Sonne fast weiß war, lachte und planschte im Wasser. Er liebte sie schon so lange und hatte sie so lange vermisst. All das war jetzt gleichgültig. Er war hier, neben ihr, Vergangenheit und Zukunft gingen in der heißhungrigen Gegenwart unter, in den sinnlichen Augenblicken, unter ihren köstlichen Berührungen. Blau strahlten ihre Augen vor dem roten Herbstlaub. Der Wald hatte eine Million feuchter Edelsteine aus Licht aufgehängt.
Er berührte den Stein an der Halskette, und sie legte die Hand auf die seine und sagte ihm damit, er solle den Schmuck lassen, wo er war. Eine Erinnerung an ihn selbst erwachte. Auf einmal verspürte er einen starken Drang, das Ding wegzuwerfen, weil es ein Götzenbild war, doch er tat es nicht. Der Wolf war wie eine Haut, die er noch nicht ganz abgestreift hatte. Wenn er sich bewegte, erwuchs manchmal eine unbändige Kraft in ihm, und er verspürte den Drang, knurrend durch die Bäume zu rennen. Der Stein befreite ihn und war die Rettungsleine, die ihn bei Verstand bleiben ließ. Der Schlüssel, der hinter ihm das Schlachthaus versperrt hatte.
Sie jagten zusammen. Aelis benutzte den Bogen eines Banditen, Jehan schlich sich an und überraschte ein Reh, das er mit dem Speer tötete. Am Abend brieten sie das Fleisch und lagen unter den Sternen auf einer Lichtung im Wald.
Jehan wusste, was er gewesen war – ein Mann, der eine Frau so sehr geliebt hatte, dass er beschlossen hatte, aus dem Tod zurückzukehren und sie zu suchen. Er konnte es jedoch nicht in Worte kleiden. Seine Verbindung mit Aelis beruhte auf einem Gefühl, das stärker war als jeder Hunger und beklemmender als die Angst vor dem Ersticken. Sie war die Luft für ihn, und er konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder von ihr getrennt zu sein.
Im Sommer hatten sie einige Männer beobachtet, die sie gesucht hatten – der dicke Riese, der Krähenmann und der Händler. Sie hatten sich jedoch nicht gezeigt, sondern sich zwischen den Bäumen versteckt. Die Männer waren lange geblieben und hatten sich ohne Erfolg im Wald umgesehen. Unbemerkt war die Edelfrau zwischen sie getreten, hatte sich an ihr Feuer gesetzt, die Pferde gestreichelt und sogar von ihrem Proviant gegessen, ehe sie zu Jehan zurückgekehrt war. Sie wollten nicht entdeckt werden, also wurden sie nicht entdeckt.
Dann, eines Tages, als die Luft schon kalt war, küsste Aelis ihn und nahm ihn an der Hand, um ihn meilenweit durch die Bäume zu führen. Schließlich standen sie vor einem Haus, es war kaum mehr als eine niedrige Hütte mit einen Dach aus Grassoden. Niemand war darin, auch wenn man die Spuren der früheren Bewohner noch erkennen konnte – ein umgeworfener Tisch, ein zerschmetterter Stuhl, ein Strohbett. Die Bewohner waren offensichtlich in aller Eile aufgebrochen. Jehan fragte nicht nach dem Grund. Der Wald war ein gesetzloser Ort, und wer hier lebte, war ständig in Gefahr. Aelis fand einen Bogendrill und machte Feuer im Herd. Jehan legte den Packen ab, den er trug, und nahm das Fleisch und die Wurzeln heraus. Sie kochten ihr Essen, saßen lange auf dem Bett und schliefen in inniger Umarmung ein.
In dieser Hütte träumte Jehan nicht – nicht von Gott, nicht von dem Wolf, nicht von dem Krüppel, der er gewesen war, nicht von dem Mann, der er jetzt war, und nicht von der Frau an seiner Seite. Er hatte seinen Frieden gefunden.
Als er aufwachte, spürte er die herbstliche Kälte auf der Haut. Aelis war schon vor ihm aufgestanden, um Pilze zu sammeln. Er hörte sie an der Tür, wie sie die kurze Treppe herunterkam und den Korb, den sie in der Hütte gefunden hatten, auf den Tisch stellte.
Er streckte sich auf dem Bett und öffnete die Augen.
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