Claw Trilogy 01 - Fenrir
Langschiff. Es lag schräg, und der Mann stellte nun an der Seite eine Planke an.
Der Wikinger drehte sich zu ihr um und sprach sie direkt an, doch sie verstand nicht, was er sagte.
»Komm schon«, sagte Leshii. »Schaff die Maultiere in das Boot.«
Aelis wollte einwenden, dies sei unmöglich. Sie liebte Pferde und hatte auch genügend Maultiere erlebt, um zu wissen, dass sie nur für Menschen arbeiteten, denen sie vertrauten. Maultiere waren klüger als Pferde und sprachen eher auf Schmeichelei denn auf Gewalt an. Die Tiere würden nicht für sie die Planke hinauf in das wacklige Boot marschieren.
Scham, Zorn und ein tiefer Widerwille erfüllten sie. Ihr taten die Beine weh, sie hatte auf dem Rücken Prellungen davongetragen, wo sie angerempelt worden war. Ein Gefühl, das sie als Mädchen gekannt hatte, erwachte wieder. Sie konnte die Gefühle der Menschen spüren und deren Charakter erfassen, als hörte sie eine Melodie oder sähe eine Farbe. Damals hatte sie ihrem Kindermädchen erklärt, sie könne »die Saiten der Herzharfe« hören. Diese kindische Beschreibung ließ sie heute, als erwachsene Frau, erröten. Doch das Gefühl war wieder da und wurde stärker. Die Nordmänner empfand sie als Mischung aus Grobheit, Grausamkeit, Großzügigkeit, Mut und Humor. Sie dachte bei ihrem Anblick an helle Klänge und leuchtende Farben, die sich hart und kalt anfühlten. Der Händler war komplizierter. Wenn sie an ihn dachte, hatte sie einen Geschmack wie von mit Honig gesüßten Mandeln im Mund. Dahinter schmeckte sie jedoch etwas Bitteres und Scharfes: Nelken und Rauch, Essig und Teer.
Ein Wikinger schrie sie auf Norwegisch an, deutete auf die Maultiere und dann auf das Boot. Es war wieder der Kleine, der böse Gnom mit dem verkniffenen Gesicht und den schmalen, starken Gliedmaßen. Aelis verstand kein Wort, empfand seine Gegenwart jedoch als dumpf und schwer, unheilvoll und beschränkt. Er trat nach ihr, und sie knickte ein. Sie prallte schwer auf den Boden, stieß sich den Kopf an und blieb außer Atem liegen. Er schrie sie weiter an und winkte ihr mit einer Hand aufzustehen, während er mit der anderen Hand den Speer einsetzte, um sie zu knuffen. Seine Stimme war so schrill und hoch wie eine Kinderpfeife, fast schon hysterisch.
Fastarr packte ihn an der Schulter und wandte sich an Leshii. »Ich entschuldige mich für meinen Bruder, Händler. Er hatte in den letzten Jahren Pech in der Schlacht.« Seine Stimme war leiser, Aelis dachte an eine Flöte. Was geschah nur mit ihr? Der Sturz hatte alle ihre Sinne durcheinandergebracht, nun drängte etwas Neues in den Vordergrund, und die Welt war nicht mehr das, was sie gewesen war. Ihre Sinne waren geschärft, und sie vermochte Menschen und Persönlichkeiten auf eine ganz neue, verwirrende Art viel besser zu verstehen als früher. Es war, als hätte die ungewohnte Belastung irgendetwas in ihr freigesetzt.
»Wurde er verletzt?«, fragte Leshii auf Norwegisch. Sie vernahm zwei harte Silben, die an Trommelschläge erinnerten, und auch wenn sie die genaue Bedeutung nicht erfasste, so begriff sie doch den Sinn. Es war, als könnte sie die Gefühle und Regungen der Menschen in ihrer Nähe lesen wie ein offenes Buch. Sie verstand, was die Nordmänner redeten, doch ging das Verständnis über das hinaus, was bloße Worte zu vermitteln vermochten.
»Er hat keinen einzigen Gegner getötet«, erklärte Fastarr. »Das war einfach nur Pech und keineswegs Feigheit, wie seine Feinde behaupten.«
»Was nützt uns ein Sklave, der nicht arbeitet?« Wieder das schrille Organ.
»Ungefähr so viel wie ein Krieger, der nicht tötet«, entgegnete Fastarr. »Jetzt lass den Jungen die Maultiere auf das Boot bringen, Saerda, und such dir für deine Kämpfe gefälligst einen fränkischen Bewaffneten und keinen stummen Idioten aus.«
Auch wenn Aelis die Worte nicht genau verstand, so begriff sie doch, dass sie der Wikinger mit dem Hammer auf dem Schild in Schutz nahm und den Kleinen verspottete, den er offenbar nur aufgrund irgendeines Schuld- oder Pflichtgefühls duldete. Ebenso sah Aelis ein, dass die Wikinger Saerda – sie erkannte das Wort als Namen – mindestens so übel mitspielten wie ihr oder gar noch schlimmer.
Sie stand auf. Die Nacht schien rings um sie zu brodeln, die Gedanken und Gefühle der Menschen im Lager summten wie die Fliegen über einem Sumpf. Ein Bild kam ihr in den Sinn. Sie sah sich selbst auf einem Berggipfel, von dem aus sie ein weites Tal überblickte. In ihr
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