Claw Trilogy 01 - Fenrir
der Gott sie verlangen würde. Der Gott hatte gesagt: »Das Kind, das neben dir in der großen Halle sitzt.« Ingvar war bei allen Treffen dort, saß bei jeder Entscheidung neben ihm, hörte zu, wenn die Bauern Streitigkeiten zu schlichten hatten, verteilte mit ihm Wergeld an die Krieger, war zugegen, wenn Könige als Gäste kamen. Helgi hatte geschworen, den Knaben zu erziehen, aber wenn das Schicksal ihn niederstreckte und die Götter ihn töteten, dann war Helgi befreit, ohne den Eid gebrochen zu haben, und konnte einen anderen Nachfolger benennen.
Der Prinz hatte überhaupt nicht an das Mädchen gedacht. Er war ein Krieger, wie hätte er da auf die Idee kommen sollen, sie könne auf irgendeine Weise für den Gott wichtig sein? Sie war eine kleine Range, noch nicht einmal sechs Jahre alt. Wie konnte der Gott sie verlangen, da er doch einen inzwischen dreizehnjährigen Jungen haben konnte, der bereits ein wenig Tapferkeit zeigte? Doch der Gott kannte seine Schwächen, und Helgi musste sich eingestehen, dass man mit solchen Wesen keinen Handel treibt und niemals hoffen kann, herauszukommen, ohne in barer Münze zu bezahlen, so sehr man sich auch über die vermeintliche eigene Gewitztheit freuen mag.
Helgi blickte vom Dach des Turmes hinab. Die Stadt lag auf einer Halbinsel, die sich weit in den breiten Fluss Wolchow hinein erstreckte. Im Landesinneren sah er grüne Felder, in der Nähe die Grabhügel seiner gefallenen Gefährten, dahinter erstreckte sich der Wald wie ein grünes Meer. Gerade wurde ein Hügel für Gillingr angelegt, seinen Wikingerbruder, der ihn auf ihren Raubzügen bis in den Süden nach Miklagard und bis zu den Inseln im Westen begleitet hatte. Hinter dem letzten vollendeten Grabhügel lag die rote Erde frei, und nun sollte die Konstruktion der Grabkammer beginnen. Wie er gehört hatte, waren die Arbeiter dort auf Schwierigkeiten gestoßen, doch die Krankheit seiner Tochter hatte ihn zu sehr beansprucht, und er hatte sich nicht weiter darum gekümmert.
Seine Tochter würde keinen Grabhügel bekommen. Sie war immer in Bewegung, klug und schnell von Verstand. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie unter der Erde lag. Nein, für sie musste es das Feuer sein, wie es ihrem Geist entsprach. Er blickte zum Fluss und fühlte sich wie ein Vogel, der hoch über dem Wasser segelte. Ein Vogel konnte im Nu abbiegen und dem Fluss nach Süden bis Miklagard folgen, um herabzustoßen und die Schätze des byzantinischen Herrschers zu plündern, er konnte bis ins Kalifat weiterfliegen und mit Edelsteinen aus Särkland zurückkehren. Das fiebernde Mädchen stöhnte. Er blickte auf sie hinab und schüttelte den Kopf. Er hatte sich selbst gestattet, seine Tochter zu lieben. Männer, und besonders Könige, sollten ihre Töchter niemals lieben, dachte er. Sie waren nichts weiter als ein Handelsgut, das man einsetzen konnte, um mit anderen Königen um Gold, Land oder Frieden zu feilschen. Doch er hatte sie lieben gelernt, und nicht zuletzt wegen ihres tapferen Herzens.
Sváva und ihre Schwestern durften sich dem König nur in Anwesenheit einer Edelfrau oder ihrer Mutter nähern, die auf das Benehmen der Mädchen achteten. Sie aber hielt sich nicht an solche Regeln. Sie kam einfach zu ihm, schlich herein und sah zu, wenn er in der großen Halle mit Händlern, Prinzen und Kriegshäuptlingen verhandelte. Die Kleine glaubte, er könne sie nicht sehen, wenn sie mit den Hunden unter den Bänken hindurchkroch, doch er bemerkte sie natürlich. Oft fiel sein Blick auf sie, wenn er einen Streit zwischen Bauern schlichtete. Ihr Anblick raubte ihm jegliche Strenge, wenn er eigentlich Lust gehabt hätte, die Beschwerdeführer einfach zum Teufel zu jagen. Er musste kichern, wenn er sie sah, und obwohl er sie hätte verhauen sollen, bis ihre Beine blau anliefen, tat er es nicht. Er zwinkerte ihr zu und warf ihr einen der Äpfel zu, welche die bäuerlichen Kläger als Geschenke mitgebracht hatten.
Er konnte ihr nichts abschlagen, und irgendwann saß sie neben ihm auf dem Boden. Ingvar als sein Thronfolger nahm auf der anderen Seite auf einem Stuhl Platz und beobachtete die Regierungsgeschäfte. Ihm war bewusst, wie er vor seinen Männern dastand, und suchte hin und wieder absichtlich einen Streit, um dem Eindruck entgegenzuwirken, er sei zwar nachsichtig mit seiner Tochter, ließe seinen Kriegern aber gewiss nichts durchgehen. »Nichts geht über Kadavergehorsam«, hatte sein Vater immer gesagt und ihn von frühester Kindheit an
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