Clemens Gleich
höhnte van Erster. "Mit erhobenen Fäusten in mein Gesicht gestolpert? Du kannst froh sein, dass ich es war und nicht einer von den grobschlächtigeren Kollegen. Die hätten dich wahrscheinlich ernsthaft verletzt."
"Ich hab mich eben erschrocken. Kommt da Einer einfach so ins Haus gerannt..."
"Hah! Ich habe vorher ausgiebigst geklopft, und ich weiß, dass du das gehört hast, Weinwasser." Sie sahen sich einen Moment lang schweigend an. Yens konnte durch seine täglichen Übungen starren wie eine Katze, während Milo schon immer eine charakterliche Molluske war, der es außer an Rückgrat zumeist selbst am leisesten Hauch von Konfrontationswillen fehlte. Der Maler betrachtete schnell mit ihm unerklärlichem Unbehagen seine Handrücken auf dem Tisch. Triumphierend rammte Yens beide Handflächen auf das Blümchentischtuch, um sich auf ihnen drohend in Richtung seines Verdächtigen lehnen zu können.
"Ich weiß, ihr ach so freien und autonomen Leutchen und vor allem ihr Künstlertypen" (er spuckte das letzte Wort geradezu heraus) "nehmt es nicht so genau mit den Gesetzen. Die gelten ja nur für die normalen, spießigen Bürger. Stimmts?" Milo sagte gar nichts. Sein Kopf kam ihm völlig leergeräumt vor. Yens fuhr ungerührt in seiner Ansprache fort:
"Und ihr glaubt, die dumme, dumme Wache hat keine Ahnung, was in diesem Haus so alles vor sich geht." Er pausierte für den Effekt. "Natürlich stimmt das nicht. Wir wissen zum Beispiel, dass du und deine sogenannten Freunde es mit den imperialen Rauschmittelrichtlinien nicht so genau nehmt." Was für ein blasierter Egomane, dachte Milo, als sein Gehirn endlich wieder funktionierte. Er hatte den Wächter auf den ersten Blick als Kether erkannt. Es sprach irgendwie aus ihrem zerbrechlichen Körperbau, ihrer fast immer kultivierten vornehmen Blässe. Vor allem sprach es aus ihren Augen. Trotzdem war das objektiv betrachtet keine Überlegenheit. Es war eher Degeneration. In modernen Zeiten wie diesen, fand Milo, sollte nicht eine willkürliche Andersartigkeit für Überlegenheit stehen, wie es im Imperium noch immer üblich war. Vor allem dieser hier ließ sich seine privilegierte Abstammung so richtig widerlich raushängen. Er hasste ihn dafür. Dennoch konnte er nicht anders, als sich trotz allem unterlegen zu fühlen. Er war sich sicher, ihm geistig wie kulturell weit voraus zu sein, doch das Gefühl ging davon nicht weg. Dafür wiederum hasste er sich selbst. Yens van Erster unterbrach sich in seinem Schwafelfluss und Milo in seinen Grübeleien:
"...und das ist schädlich nicht nur für die Person, sondern für die Gesellschaft als Ganzes! ... Hörst du mir überhaupt zu, Weinwasser?" Der Wächter wedelte vor dem Gesicht des Künstlers, hinter dem der Besitzer zur Zeit nicht anwesend, weil weit, weit weg war. Das Gewedel holte Milo zurück aus seinen Ressentiments.
"Ist das alles?", fuhr er auf. "Bist du nur hergekommen, um dich über ein paar harmlose Genussmittel auszulassen?" Er erschrak vor seinem eigenen plötzlichen Mut, beschloss jedoch, sich das nicht anmerken zu lassen. Yens zog seinen Kopf etwas zurück und die Augenbrauen hoch.
"Harmlose Genussmittel, soso... Nein, du hast Recht, ich bin nicht auf einmal wegen einer Sache da, die wir ohnehin schon lange wissen. Aber bevor ich dir erkläre, in was für Schwierigkeiten du tatsächlich steckst, lass mich eines klarstellen:" Er machte eine kleine dramatische Pause. "Nur weil ich dich duze, heißt das noch lange nicht, dass du dir deshalb dasselbe Recht herausnehmen kannst. Immerhin bin ich ein Wächter. Ist das klar?"
Leck mich, dachte Milo.
"Ja", sagte Milo. Das verstand er nicht. Er wusste, dass er nicht sonderlich charakterstark war, aber das hier fühlte sich an wie ferngesteuert.
"Gut", befand van Erster süffisant. "Also für dich in Kurzfassung, falls die 'harmlosen Genussmittel' deine Auffassungsgabe einschränken: Wir fahnden nach einem Felligen, der offensichtlich defekt ist, also wahrscheinlich gefährlich. Und deine Freundin ist nicht in ihrem Laden. Nicht, dass das die imperiale Wirtschaft nachhaltig schädigen würde", ätzte er, "aber unseren Daten nach ist das deutlich abweichendes Verhalten von ihrem Standard. Ich darf hinzufügen, dass sie sich bei meinem Besuch zu Anfang der Ermittlungen ebenfalls äußerst verdächtig verhalten hat. Ihr Vater spielt den Unwissenden, aber wir wissen beide, dass sie hier gewesen ist."
"Ich habe keinen Schimmer, von was d... Sie reden", behauptete Milo
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