Clemens Gleich
will endlich die Schmutzkruste abwaschen und das bescheuerte Fahrrad einschmelzen!"
Es dauerte bis zum Sonnenuntergang, bis die beiden Flüchtigen die Stadt erreichten. Die Stimmung war noch weiter gesunken, da Pikmo immer wieder versucht hatte, helfend das Fahrrad samt Frau zu schieben, Jianna das aber jedesmal ausdrücklich verbat, dann wieder eben darum bat, wenn sie in einem Staubloch steckenblieb und Pikmo dadurch ziemlich verwirrt wurde. Ferner war die emotionale Gesamtsituation dem zügigen Vorankommen natürlich alles andere als zuträglich. Wäre Jianna in einer Laune gewesen, in der sie auch nur annähernd aufnahmebereit für Schönheiten irgendeiner Art gewesen wäre, hätte sie sich von den herrlich roten, gelben und kitschpinken Farbtönen am Himmel das Herz wärmen lassen. Aber so war es eh schon überhitzt. Sie konnte auch die beeindruckenden rotbraunen Gebäude nicht richtig würdigen, die aussahen, als seien sie pflanzengleich direkt aus dem Staub gewachsen. Die Wahrheit war noch erstaunlicher: Die surrealen Formen wurden von schuhkartongroßen Wespen hervorgekaut, Schicht für Schicht wie das Papier der Nester ihrer kleineren Verwandten. Pikmo deutete auf einen Teil der Stadtmauer, der gerade saniert wurde. Arbeiter schraubten dort an Metallgerüsten, die offenbar als tragende Knochen unter dem tonartigen Hauptmaterial dienen sollten, das von ganzen Trauben der seltsamen Insekten herangeflogen wurde.
"Schau mal, Mörtelwespen! Eine relativ neue Entwicklung der großartigen imperialen Biotechnik", dozierte er mit wissend erhobenem Zeigefinger. "Können Bausubstanz aus weiter Entfernung selbst in schwierigstem Gelände anfliegen und sie mit verschiedenen Speichelzusätzen gegen Wasser imprägnieren. Erstaunlich."
"Mmm...", murrte Jianna, ohne auf diesen weiteren Aufmunterungsversuch einzugehen. Sie schob das Fahrrad durch ein kleines, offenes Tor in der Mauer, hinter dem eine kleine Gasse weiterführte, die nur wenig breiter war als der staubige Weg draußen. Kleine Balkone, Erker und Balustraden wuchsen aus den Häusern über ihren Köpfen wie Früchte in einem Wald aus Ton. Die unsichtbaren Bewohner hatten Wäscheleinen gespannt, auf denen sich die bunten Kleidungsstücke wie Blüten zum Takt des Windes wiegten. Auf dem durchschrittenen Torbogen stand "Nirgendsrothof" in die sandsteinartige Substanz geritzt. Pikmo setzte gerade zu einer touristischen Erklärung des Namens an, der ja, wie man wissen sollte, aus einer Zeit stammte, als hier nur ein einzelner... Aber Jianna drehte ihm endlich barsch den tröpfelnden Informationshahn ab:
"Es reicht jetzt! Sei ... einfach ... ruhig!" Pikmo nickte. Jianna hätte dieser stille Gehorsam im Normalfall wieder genervt, aber ihr Maximalpegel von Genervtsein war schon lange erreicht. Schweigend schritten sie durch enge Gassen, bis die auf etwas breitere Straßen führten und es dunkel wurde. Die Tagespopulation der Straßen wechselte langsam, unmerklich zur Nachtschicht. Menschen, fiel es Jianna ein. Hektisch kramte sie den großen Umhang aus ihrem Rucksack hervor und zischte Pikmo zu, er solle ihn überwerfen. Was ihr sonst nie sonderlich aufgefallen war, drängte sich situationsbedingt übermächtig in ihre Wahrnehmung: Die imperiale Menschenmaschinerie zeigte sich an jeder Ecke. Jede der rotgewandeten Wachen schien sie misstrauisch zu beäugen, jeder der rot-schwarz-golden gekleideten Boten Nachrichten über ihre Situation zu transportieren, selbst jeder der schwarz-roten Ordnungsarbeiter schien sie auf einmal zu kennen. Die rote Flagge mit dem schwarzen Kreis, die stilisierte "Sonne des Imperiums", dieses ehemalige Sinnbild für Geborgenheit, wirkte mit einem Mal finster und bedrohlich. Sie lebte in einem totalitären System. Gut, das hatte sie in ihren Teegesprächen mit FAK oft genug erörtert, nur war es bei Kaffee und Kuchen im gemütlichen Wohnzimmer eben abstrakt, diskussionstechnisch interessant gewesen. Das hier war die ungemütliche Realität. Eigentlich würde sie die Implikationen lieber wieder trocken theoretisch diskutieren, dachte sie sich, als sie an einem der "Ohren des Ministeriums" vorbeikamen. Früher hatte Jianna diese Terminals, an denen mündige Bürger ihre Meinung ans Ministerium geben konnten, als eine Art basisdemokratische Kummerkästen gesehen. Wie naiv von ihr! Das waren doch Instrumente eines perfiden Überwachungsstaats! Wahrscheinlich war jeder direkt an die Informationsmaschinerie angeschlossen, inklusive sie selbst.
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