Clemens Gleich
Zeitung zu lesen, weil sie angeblich den Rest ausschließlich zum Auslegen von Mülleimern verwendete. In Wirklichkeit konnte ein einziger ätzender Kommentar in ihre Richtung sie innerlich zum Kochen bringen. Zum Thema der Kreatur würden sehr viele sehr ätzende Kommentare kommen, das war so sicher wie die morgige Zeitung. Das Erste, was die Wache tun würde, wäre, sich per imperialer Sondergenehmigung die Spezifikationen vom entsprechenden Biolabor zu holen, und von da war es nur noch eine kleine Indiskretion, bis die Pressegeier und damit alle Einblick erhielten. Vielleicht wäre es besser gewesen, diesen Pikmo gleich erschießen zu lassen, anstatt eine Belohnung auszusetzen. Was würden die Leute im Gesamtkontext davon denken? Praneh Siebenring atmete kopfschüttelnd tief aus. Sie war nicht so weit gekommen, indem sie sich danach richtete, was "die Leute" so dachten. Das war ohnehin im Allgemeinen nicht viel. Nein, die Belohnung war eine richtige Entscheidung gewesen, weil sie die vorangehenden Entscheidungen unterstrich, statt sie zu entwerten. Außerdem hatte sie fünf Jahre auf diese Maßanfertigung warten müssen, die mit ihrer hochwertigen Ausstattung immer noch sehr nützlich sein konnte. Ruwen hätte genauso entschieden, sagte sie sich. Als die beiden das Unternehmen damals aus schweißverfugter Willenskraft aufbauten, war er immer mutig genug gewesen, die wirklich lohnenden Risiken einzugehen, an die sich sonst kaum jemand herantraute. Selbst aus seiner letzten Verhandlungsreise hatte er kräftig Kapital geschlagen, bevor er seine Risikorechnung schließlich doch mit dem Leben bezahlte. Praneh selbst hatte sein Andenken bisher nie enttäuscht. Sie machte auf dem Absatz kehrt und sich mit neuem Eifer an die Arbeit.
In Milos kleinem Haus war wieder Ruhe eingekehrt, die der Maler dazu nutzte, ein neues, besseres Kiranda-Portrait anzufangen. Jiannas Besuch hatte ihn zwar nervlich etwas mitgenommen, aber der schöne Ausklang des Abends hatte ihm auch ein wenig frischen Mut gegeben, sich nicht einfach abspeisen zu lassen. Hatte Jianna ihn nicht ausdrücklich für seine Bilder gelobt? Er würde Kiranda ein Portrait malen, das endlich ihre Zuneigung gewänne, jawohl! Er würde... Es klopfte an der Tür. Milos voll Hoffnung gepumpte Erscheinung sackte augenblicklich in sich zusammen. Furchtsam fragte er sich, mit welchen weiteren Verbrechen er nun konfrontiert würde. Es klopfte wieder, diesmal lauter. Das Klopfen hatte auch diesen herrischen, befehlsgewohnten, "lass-mich-rein-sonst-aber"-Charakter, der eigentlich nur von der Wache kommen konnte. Milos Blut gefror zu Eis. Die Wache! Sie kam, um ihn zu holen! Ja, er hatte Beihilfe zu einem Kapitalverbrechen geleistet! Sein Kohlestift fiel ihm aus der zitternden Hand. Er stieß aus Versehen seine Leinwand unter lautem Gepolter um und rannte zur Hintertür. Als er die Klinke berührte, zuckte er zurück, als hätte er sich verbrannt. Natürlich war die Klinke nicht heiß, doch hatte sich sein einigermaßen gesetzestreues Gewissen eingeschaltet. Ein bisschen Kraut rauchen war eines, die Flucht in Zusammenhang mit einer bestimmt irren blauen Mordmaschine etwas völlig anderes. Das Gewissen übernahm die Gewalt über eines seiner Beine, die Angst klammerte sich an das andere, und Milo sah als ausgebooteter Passagier dabei zu, wie sein Körper da unter ihm unentschlossen zwischen hin- und herrannte – einmal dem Gesetz in die Arme, einmal die Beine unter die Arme und schnellstmöglich davon weg. Das Gesetz erlöste ihn von seiner Unentschlossenheit, indem es kurzerhand durch die Hintertür eintrat:
"Yens van Erster, Stadtwache Romala", stellte es sich vor. Im Schreck rannten Milos Beine in jeweils verschiedene Richtungen, verhedderten sich ineinander, stolperten über einen Holzschemel, sodass Milo das Gleichgewicht verlor und wild mit den Armen rudernd und den Augen rollend auf den Wächter zustürzte.
Eine halbe Stunde später saß Milo mit einer dicken Backe an seinem Küchentisch und sah den Wächter aus einem Auge vorwurfsvoll an, weil das andere blau und zugeschwollen war.
"Du brauchst gar nicht so gucken, als ob du hier das Opfer wärst", fuhr van Erster ihn an. "Warum hast du mich angegriffen? Schuldgefühle?" Milo war noch nicht lange wieder bei Bewusstsein, aber das unmöglich blasierte Verhalten dieses Schnösels ließ ihm den Puls schon wieder erfrischend in die Höhe schnellen.
"Angegriffen? So ein Schwachsinn! Ich bin gestolpert!"
"Gestolpert!",
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