Clemens Gleich
grinste ein "Gute Nacht!" in Richtung Jianna und stieg in die Federn.
Milo saß in der Küche über ein paar weiteren Skizzen seiner Traumfrau. Er sah kurz auf, als Jianna zurück in die Küche kam und sich in ihre Ecke setzte. Nach einer Weile legte er das Skizzenbuch beiseite und sah seine Schulfreundin an, die dem Gesichtsausdruck nach mindestens eine Galaxie weit weg war.
"Was ist los?" Sie kehrte aus ihrer persönlichen Gedankenumlaufbahn zurück an den Küchentisch.
"Weißt du, was er ist ?", fragte sie mit einer ungläubigen Dringlichkeit. Milo fand sich einmal mehr auf unsicherem kommunikativen Terrain wieder. Was war die richtige Antwort? Er wusste es nicht. Er versuchte es mit Ehrlichkeit:
"Nein. Was, äh, ist er denn?"
"Er ist ein Sexsklave!", rief sie.
"Aber sind das nicht sehr viele?"
"Das macht es doch nur umso schlimmer! Was für ein erniedrigendes Schicksal!"
"Hey", versuchte Milo sie zu beruhigen, "vielleicht irrst du dich ja. Vielleicht..."
"Er hat sich ausgezogen, als ich noch im Zimmer war", unterbrach sie ihn. "Ich irre mich nicht. Er ist lebendiges Spielzeug! Für eine ... für eine ... perverse alte Frau!"
"Ist er ... deshalb weggelaufen, meinst du?"
"Ich weiß es nicht." Jianna hielt ihren Kopf mit beiden Händen an den dünnen Haaren fest. "Aber eins weiß ich: Wenn wir die Sache durchgestanden haben, werden sie uns nicht mehr so einfach ignorieren können! Pikmo hat ebenso ein Recht auf Menschenwürde wie wir!" Sie starrte geradeaus.
"Wie willst...", fing Milo an.
"Lass uns heute nicht mehr über dieses Thema reden", sagte sie abrupt, "sonst kann ich nicht schlafen." Dafür war ihr der Künstler sehr dankbar. Er schenkte sich das Glas wieder voll.
"Machen wir den Wein leer?", fragte er.
"Gute Idee." Milo erkannte das Lederbändchen, an dem Jianna mal wieder unbewusst herumzupfte.
"Hast du von ihm nochmal was gehört?", fragte er, auf ihr Handgelenk deutend.
"Was? Äh... Nein. Ich... behalte das, weil... Weil es ein sentimentales Andenken an einen schönen Urlaub ist."
"Was macht der Laden?"
"Oh, geht so la-la. Die Leute kaufen nicht viele Traumkugeln und Wassersegner, weißt du? Verlassen sich lieber auf moderne Hochtechnik. Ein paar von den Beraterbüchern gehen ganz gut."
"Über was beraten die denn?"
"Naja, wie man zu seinem inneren Kind findet, oder wie man ein höheres Bewusstsein erlangt." Milo kannte einige der Leute, die öfter im Laden verkehrten, deshalb fiel ihm dazu nichts mehr ein. Sie schwiegen eine Zeitlang. Um Jianna doch noch von ihren Menschenrechtsgedanken abzulenken, schnitt Milo nostalgisch die guten alten Schulzeiten an. Als sie mit Lästern und der restlichen Weinflasche fertig waren, schlief Jianna trotz allem ziemlich gut.
Am nächsten Morgen ertönte unter dem Gästezimmer ein seltsames Klingeln, das durch seine Andersartigkeit und seinen puren Stress-Faktor, der ohrenscheinlich auf seine nervtötenden Frequenzen zurückging, das schaffte, woran die Hundertschaft inbrünstig brüllender Vögel schon seit Stunden scheiterte: Es weckte Pikmo auf. Es war ein übergangsloses Erwachen, das Jianna sicherlich befremdet hätte, wäre sie im Zimmer gewesen. Pikmo öffnete einfach die grellgelben Augen, als hätte er nie geschlafen, glitt offensichtlich hellwach aus dem Bett und öffnete das Fenster, um hinunterzusehen. Jianna grinste ihm entgegen. Mit einer Hand ratschte sie kräftig an einer furchtbar überproportionierten Klingel an einem altmodischen blauen Damenfahrrad, mit dem sie inmitten der alten Bäume hinter dem Haus stand.
"Unser Fluchtwagen", strahlte sie ihn aus der sonnenfleckigen kleinen Wildwiese an. "Jetzt komm frühstücken, damit wir zeitig wegkommen. Milo hat Pfannkuchen gemacht." Pikmo grinste dankend nach unten, nickte und trat vom Fenster zurück. Erst jetzt erlaubte er sich – oder welches Programm auch immer fürs Aufstehen verantwortlich war – ein herzhaftes Gähnen. Er streckte und dehnte sich ebenso ausführlich wie systematisch, bevor er den Lendenschurz anlegte und dem Duft süßer Fladen nach unten folgte.
Das Frühstück passierte auf Drängen Jiannas in einer hastigen halben Stunde; inklusive Packen, Zähneputzen und Verabschieden. Es ging schon auf den Mittag zu und die Strahlen der Sonne heizten alles kräftig auf, vor allem zwei einsame Gestalten, die an der Spitze ihrer kleinen Staubfahne über trockene Feldwege zogen. Jianna trat schwitzend in die Pedale, Pikmo trabte nebenher. Sie hatte einige
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