Clemens Gleich
der Baumwipfel. Telemann führte einen merkwürdigen Tanz auf. Als Pi ihn mit fragend schiefem Kopf ansah, erklärte er:
"Ich habe einen Botengeist beschworen, der uns ankündigen soll – und nach ungewöhnlichen Vorkommnissen fragen." Wortlos machte Pi sich noch ein Pfeifchen. Sehnsüchtig sah Telemann darauf. Pi dachte jedoch nicht daran, die Droge weiterzureichen, sondern an Selbstmord. Er wusste, dass er an vielen emotionalen Randgebieten seltsam ausfranste, vor allem, wenn diese etwas mit der lieben Liebe zu tun hatten, von daher verwunderte es ihn nicht, dass er trotz gelegentlich brennendem Todeswunsch de facto nicht in der Lage war, seine Existenz selbst zu beenden oder das auch nur zuzulassen. Es ärgerte ihn ungemein. Die Götter wussten, wie sehr er sich mit dem Sterben angestrengt hatte. Sie wussten auch mit welchem Erfolg: gar keinem. Er hing einer Emotion nach, der er überaus gern in unangenehmen Situationen nachhing: Wenn er tot wäre, müsste er nicht hier sitzen, wo ihn eine schnorrende Flugratte ansah, als wäre er der große Wohltäter, als hätte er beliebig viel Kraut. Zugegeben: Er hatte beliebig viel Kraut, aber es ging hier ums Prinzip.
"Weißt du", sagte er schließlich Rauch ausstoßend, "ich würde lieber sterben, als dir was abzugeben."
"Dann mach das doch", sagte Telemann schulterzuckend. Pi grinste breit. Ein Mann oder zumindest ein vermutlich männliches Wesen nach seinem Geschmack! Er gab ihm die Pfeife und beobachtete fasziniert, wie ein für ihn gemachtes Mundstück in den überproportional großen Froschmund des Lotsen passte. Telemann zog dankbar tief ein und aahte dann eine lange Rauchfahne in den Flugwind. Als er die Augen öffnete, tauchte der Botengeist wieder auf und quäkte:
"Ihr seid nicht willkommen, aber erwünscht in Ualap. Der Signalwart zeigt Pako aus Sansaral, Pi aus Krul und seinem Führer gebührenden Respekt. Es wurde in dieser Nacht ein Schiff gestohlen. Das ist ungewöhnlich, und wir wollen mit jedem reden, der das antizipiert."
"Ha!", freute sich Telemann. "Wie immer habe ich recht gehabt! Sie waren hier und haben ein Schiff geklaut, um weiterzukommen! Mir gefällt übrigens dein Tonfall nicht, Freundchen!" Damit zeigte er drogenalbern auf den Botengeist, der einer Diskussion auswich, indem er sich auflöste. Zu seinem weiterhin fortbestehenden eigenen Bedauern konnte Pi es dem Geist nicht gleichtun, aber in seinem Inneren lösten sich ein paar der ärgsten Wutkrämpfe etwas. Wenn hier jemand so auffällig am Werk war, reduzierte das die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass ein gewisser Jemand involviert war. Vielleicht hatte er sich geirrt. Das wäre doch nett, weil selten. Er steuerte den Lufthafen an, landete den Drachen auf einem der Ankeräste und fand einen grün gekleideten Lotsen, der interessiert auf den Ast unter seinen Füßen guckte, an dem gestern noch ein feines Handelsschiff festgemacht gewesen war. Trotzdem grinste er. Das konnte hier durchaus eine normale Emotion sein. Immerhin war Pis Gefühlswelt hier normal, wenn auch nicht sein deformierter Körper. Was für Telemann normal war, ließ sich von innen wie von außen schwer feststellen. Wahrscheinlich war sein Normal eine chaotische Welle. Allerdings schlug sein Stimmungspendel gerade in Richtung Paranoia aus, also blaffte er den Lotsen an:
"Was gibt’s da zu grinsen? Steckst wohl drin in der Sache, hä? Was haben dir deine Luftpiratenfreunde gegeben, damit du wegguckst?" Der Lotse sah ihn an wie einen auf interessante Art ekligen Käfer.
"Er ist nicht von hier", erklärte Pi. "Erzähl."
"Gestern Abend war der Kahn noch da", erzählte der Lotse, "nur war er heute morgen weg, obwohl er erst später wegsollte. Und die richtige Mannschaft ist noch hier. Und eine Wache auf diesem Ast ist in der Nacht einfach vom Baum gefallen."
"Wahrscheinlich kein betrunkenes Kind", vermutete Pi laut.
"Wahrscheinlich jemand, der in seinem Leben nichts anderes gemacht hat, als auf Ästen 'rumzulaufen, ohne runterzufallen."
"Hat ihn jemand geschubst?", fragte Telemann, erhielt aber keine Antwort. Pi seufzte:
"Er ist mein Lotse, gib ihm Antwort wie mir."
"Das ist nett, dann gebe ich euch beiden keine Antwort mehr!" Pis Arme zuckten wie zwei Giftschlangen, eine Hand packte den Hals, die andere über Kreuz den Arm, und als sich Pi in einer komplexen Bewegung entknotet hatte, saß er auf des Lotsen Rücken, den Arm im Hebel.
"Das ist gut", hauchte Pi in sein Ohr, "weil wir uns schon die ganze Zeit drauf
Weitere Kostenlose Bücher