Clemens Gleich
Jianna die schwere Eingangstür auf und spähte in das dunkle Foyer. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das schwache Licht – eine Mischung aus den Laternen der Straße, dem Mondschein und den Fenstern der Nachbarn, die aus irgendeinem Grund immer beleuchtet waren. Am Ende der gewundenen Treppe, die zu den Schlafzimmern oben führte, zeichnete sich die unheimliche Silhouette einer riesigen Spinne ab. Die war schon hier, seit Jianna denken konnte. Als Kind hatte sie sich immer gefürchtet, nachts auf die Toilette zu gehen, obwohl sie jeden Tag sehen konnte, dass die Spinne eigentlich nur eine große Topfpflanze war. Sie langte gewohnheitsmäßig zum Dimmer, hielt ihre Hand jedoch zurück. Nicht, dass die Wache am Ende gerade jetzt das Haus beobachtete und sich fragte, welche verdächtigen Gestalten um diese Zeit da Licht machten. Immerhin war das ihr Elternhaus, in dem fand sie sich blind zurecht. Mit einem Blick zurück schloss sie die Tür und schritt dann hinüber zur Treppe. Auf halbem Weg stieß sie mit dem Fuß an eine flache Kiste, stolperte, fing sich, trat dabei jedoch krachend den Deckel ein, trudelte wieder, zog das an ihrem Stiefel krallende Sperrholz mit lautem Quietschen über den Steinboden, schrie auf, als sie sich den Kopf am Treppenpfosten anschlug und blieb schließlich schnaufend stehen.
"Geht es dir gut?", fragte Pikmo besorgt.
"Psst!", giftete sie ihn an. "Nicht so laut!" Wohltrainiert sparte sich Pikmo jeden Kommentar und half ihr stattdessen, die Kiste vom Schuh zu bekommen.
"Was ist das überhaupt für ein Dreck, der hier mitten im Weg steht?", fragte sie das Haus im Allgemeinen.
"Ein Paket", antwortete Pikmo, während er es in seinen Händen drehte. "Mit Orden drin, auf Heu gepolstert." Jianna glotzte, bis ihr die Augäpfel schmerzten, konnte jedoch nur ein graues Rechteck mit einem schwarzen Loch darin erkennen.
"Ich sehe gar nichts."
"Ich schon", erklärte Pikmo.
"Hättest du das nicht eher sagen können? Ab jetzt gehst du vor."
"Wohin?"
"Die Treppe hoch und dann rechts." Doch das war gar nicht mehr nötig. Eine Tür öffnete sich, Licht tröpfelte hinaus, dann flutete der Deckenleuchter das Foyer mit blendendem Weiß. Als Jianna sich halbwegs an die Helligkeit gewöhnt hatte, blinzelte sie nach oben, wo ihr Vater schlaftrunken stand, eine Hand auf dem Dimmer.
"Papa!" Jianna grinste ihn ebenso breit wie verkrampft an.
"Jianna?" Hannz Brieg besah sich ungläubig die Szenerie. Seine Tochter stand da unten in Wanderausrüstung neben einer Gestalt, die eigentlich nur ein Einbrecher sein konnte. Gern hätte er seine Waffe gezogen, konnte sie an seinem weißen Pyjama mit den blauen Streifen aber nicht finden. Also fragte er nochmal: "Jianna?" Es erschien ihm höchst unwahrscheinlich, dass seine Tochter ihn nachts überfiele, wo sie doch nur zu fragen brauchte, um wirklich alles von ihm haben zu können. Mittlerweile war sich Hannz relativ sicher, nicht mehr zu schlafen. Da stand wirklich ein kapuzentragender Verbrecher in seinem Haus, der schon damit angefangen hatte, seine heute erst mit der Post gekommenen Orden aus dem großen Trennungskrieg unter die Lupe zu nehmen. Hannz Brieg sammelte militärische Auszeichnungen aller Art aus dieser Zeit und wusste, dass diese beiden Exemplare allein vom Materialwert stehlenswert waren. Er hatte es hier anscheinend mit einem Experten zu tun. Sein müder Kopf bot ihm verschiedene Handlungsvorschläge an. Er könnte seine Waffe ziehen. Aber er konnte sie immer noch nicht finden. Er könnte nochmal "Jianna?" fragen. Aber auf diese eigentlich ziemlich gute Frage standen ohnehin noch zwei Antworten aus. Er könnte die Wache rufen. Aber die würden vielleicht seine Jianna gleich mit einkassieren. Er könnte die Treppe runtergehen. Hm. Er könnte seine Frau wecken. Nein. Er beobachtete interessiert, wie seine Füße zum oberen Treppenpfosten stakten. Ein guter Plan. Hier konnte er sich abstützen. Neue Pläne schmieden. Jianna erlöste ihn von seinen zu dieser Uhrzeit unglaublich zäh fließenden Entscheidungen und lief zu ihm hoch.
"Papa, es tut mir leid, dass ich dich mitten in der Nacht wecke, aber es ist wichtig. Ich brauche deine Hilfe."
Zehn Minuten später saßen die drei am kleinen Küchentisch. Jeder guckte in je eine Tasse starken schwarzen Kaffees. Herr Brieg schüttelte den Kopf.
"Du verlangst von mir, dass ich meine Arbeit riskiere und alles, was wir sind und haben. Und das für eine vage Vermutung deiner spinnerten Freunde?" Es
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