Clemens Gleich
der abscheulichen Abfallallee traten die beiden in das flackernde Licht einer defekten Laterne. Musik, Gelächter, Bierdunst und undefinierbare, unangenehmere Gerüche stiegen aus einer Kellerkneipe auf. Sie waren zumindest wieder unter Lebendigen. Im Licht stellte sich der Bucklige als eine Frau mit Rucksack heraus. Der Hüne blieb selbst bei Licht betrachtet recht groß. Sein dunkler Kapuzenumhang verlieh ihm zusätzliche Bedrohlichkeit. Jianna sah Pikmo an, als wolle sie sich davon überzeugen, dass er und ihre ganze Aktion wirklich waren. Sie befanden sich im siebten, äußersten Ring der Stadt, unweit eines der vielen Stadttore, die in die Slums und auf die Transitstraßen führten. Aufregung ergriff Jianna. Sie wollte losrennen und schreien und beinahe hätte sie angefangen, laut zu lachen, als Adrenalin in völlig ungewohnten Dosen durch ihre Blutbahnen pulsierte. Sie zwang sich zu einem ruhigen, schlendernden Gang. Nur mit Mühe unterdrückte sie den aufkeimenden Wunsch, für die Klischeeunauffälligkeit ein Liedchen zu pfeifen.
Sie war also in richtig guter Stimmung. Diese erlosch so jäh wie ein Staubfeuer, als sie in Sichtweite des Tores kamen. Es war zu. Es war dick. Es war bewacht. Selbstverständlich war es das, wie sollte es anders sein? Innerlich ohrfeigte sich Jianna links und rechts. Wie hatte sie auf die vollkommen unbegründete Hoffnung kommen können, dass ein Stadttor für sie unbemannt blieb? Sie lebte hier seit ihrer Geburt. Sie hatte die Tore nie unbewacht gesehen. Selbst wenn die Wächter Pikmo nicht unter die Lupe nähmen, was zu dieser Stunde, in diesem Stadtteil und mit Pikmos Riesenkapuze mehr unmöglich als unwahrscheinlich schien, wie sollten sie dann durchs Tor kommen? Zu dieser Uhrzeit ging ohne gültigen Passierschein gar nichts. Die Tore bestanden aus bataniumlegiertem hochfesten Stahl mit völlig glatten Oberflächen. Ohne den in der über zehn Zwerge hohen Mauer versteckten Schiebemechanismus würde sich der Klumpen Metall keine Handbreit bewegen, da konnte Pikmo so stark sein, wie er wollte. Die Tore hielten ganze Belagerungen draußen und nachts den Abschaum in den Slums. Wie, verdammt, hatte sie nur derart dämlich sein können?
In einem, wie sie hoffte, völlig beabsichtigt aussehenden Schwenk steuerte Jianna eine Seitenstraße an. Pikmo folgte ihr ohne Zögern. Das immer noch in ihrem Blut blubbernde Adrenalin ließ Jiannas Herz derart laut zum Hals hoch schlagen, dass sie bald fürchtete, ihren Puls von den Wänden hallen zu hören. Jeden Augenblick rechnete sie damit, den Ruf der Wache zu hören oder die Schritte von Verfolgern. Sie waren dreist ins Blickfeld der Wache spaziert, nur weil sie vor lauter Aufregung ihr Gehirn zuhause an der Garderobe gelassen hatte! Sie betete zum Kaiser, zum Gott, sie betete generell zu allen wichtigen Personen des öffentlichen Lebens, die ihr gerade in den gehetzten Sinn kamen. Vielleicht hatte tatsächlich einer davon ein Einsehen mit ihr, vielleicht hatte sie einfach nur Glück, jedenfalls entkamen sie ohne Kontrolle. Langsam beruhigte sich Jiannas Puls und die Verfolgungsängste machten der Sorge Platz, wie sie nach draußen gelangen sollten, wenn nicht auf dem normalen Weg. Nach allem, was sie wusste, gab es gar keine anderen Wege als den normalen, den sie diesmal nicht nehmen konnte. Sie drehte sich mit diesen Gedanken eine Weile im Kreis, bis ihr endlich jene Lösung einfiel, die ihr immer sehr nahe lag: Sie würde Papi fragen.
"Papi" trug in seinem Alltagsleben als imperialer Beamter den Namen Hannz Brieg. Seine Aufgabe in der gigantischen bürokratischen Maschinerie war es, in einer niedrigen administrativen Tätigkeit die Ver- und Entsorgungsprobleme der Millionenstadt Romala zu verwalten – ja gelegentlich sogar einmal einzelne davon zu lösen. Er verlangte vom Leben nie mehr, als ihm den Entlohnungsmaßstäben des Beamtentums zufolge zustand; vom Privatleben nie mehr als ein schönes Häuschen, eine liebe Frau und ein Kind zum hemmungslos verhätscheln. Das alles hatte ihm das Leben wie bestellt geliefert, folglich war er im Allgemeinen ein recht zufriedener Mensch. Er schlief den Schlaf der Gerechten in seiner Villa im Beamtensektor des fünften Stadtrings, als seine Tochter ihm persönliche Probleme ins Haus brachte, die ihn weit mehr in Anspruch nehmen würden als seine üblichen lecken Wasserleitungen.
Leise klickte Jiannas Schlüssel im Schloss, das sich nach einer Gedenksekunde knisternd löste. Vorsichtig schob
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