Cleo
europäischen Winters gewöhnten wir uns nie. Egal wie dick unsere Socken waren, unsere Zehen verwandelten sich immer in Eiszapfen.
Ich war nicht traurig, als unser Jahr in der Schweiz seinem Ende zuging. Das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Die Beamten am Genfer Flughafen fanden uns als Familie so unglaubwürdig, dass sie uns für Terroristen hielten. Sie nahmen uns beiseite und befragten uns. Waren wir wirklich verheiratet? Wessen Kind war das überhaupt? Als ich schwor, dass wir keine Waffen mit uns führten, war klar, jetzt hatten sie uns erwischt. Wir wurden in einen Raum geführt, wo ich meinen Koffer auspacken musste, der tatsächlich eine Waffe mit einer gewissen Zerstörungskraft barg – meinen Regenschirm.
Auf dem Weg nach Hause machten wir ein paar Tage Station in New York bei meinem alten Freund Lloyd. Er wusste genau, wofür sich kleine Mädchen interessieren. Welcher schwule Mann tat das nicht? Es war herrlich. Während einer unserer Sightseeingtouren entschuldigte ich mich und verschwand in einem Kmart, um einen Schwangerschaftstest zu kaufen. Zurück bei Lloyd lief ich an der Sammlung afrikanischer Masken vorbei die Treppe hochund schloss mich in seinem Badezimmer ein. Ich hielt den Streifen ins Licht, aber meine Hand zitterte so sehr, dass ich das Ergebnis kaum erkennen konnte. Halleluja! Die Linie war blau!
28
G eduld
Warten ist nichts anderes als eine Weile
die Wolken betrachten.
» Wie alt ist Cleo?«, fragte Rosie mich am Telefon.
»Zehn«, erwiderte ich.
»Erstaunlich!«, sagte sie. »Dass sie so lange lebt, hätte ich nicht gedacht.«
»Dass sie so lange bei uns überlebt, meinst du.«
»Ehrlich gesagt ja. Irgendetwas scheinst du doch richtig zu machen.«
Katzen sind den Menschen neben vielem anderen in ihrem Verhältnis zur Zeit überlegen. Sie sparen es sich, Jahre in Monate, Tage in Stunden und Minuten in Sekunden zu zerlegen, und damit ersparen sie sich viel Leid. Katzen sind frei von der Sklaverei, jeden Moment zu messen, sich ständig Sorgen zu machen, ob sie zu spät oder zu früh sind, zu jung oder zu alt und ob Weihnachten tatsächlich schon in sechs Wochen ist, und so können sie die Gegenwart in ihrer ganzen multidimensionalen Schönheit genießen. Von ihrem paradoxen Standpunkt aus betrachtet ist ein Ende oft ein Anfang. So kann sich eine Katze endlos auf dem Fensterbrett sonnen, nach menschlichem Maß gemessen schnurrt dieses Vergnügen dagegen auf jämmerliche achtzehn Minuten zusammen.
Würde es uns Menschen gelingen, die Zeit zu vergessen, würde sich Vergnügen an Vergnügen, Möglichkeit an Möglichkeitreihen. Es gäbe keine Reue mehr über Vergangenes, genauso wenig wie Ängste, die die Zukunft betreffen. Beim Betrachten des Blaus des Himmels könnten wir das Wunder erfassen, in diesem Augenblick am Leben zu sein. Wenn wir mehr wie Katzen wären, dann käme uns unser Leben endlos vor.
Ich war mir nicht sicher, wie Cleo uns begrüßen würde. Ein Jahr ist eine lange Zeit, wenn man von jemandem getrennt lebt, den man liebt. Es war durchaus möglich, dass sie uns nicht wiedererkannte, mit Sicherheit aber hatte sie die Seiten gewechselt. Wer könnte ihr das verdenken? Warum sollte sie uns die Stange halten, wenn es Andrea war, die ihren Futternapf füllte?
Als das Taxi hielt, stellte ich erleichtert fest, dass uns das Haus mit einem freundlichen, vertrauten Gesicht hinter dem Zaun begrüßte. Die Büsche im Vorgarten waren ein bisschen höher geworden. Die Glyzinie hatte ihren Würgegriff um die Verandapfosten verstärkt. Ich ließ meinen Blick über die Fenster und das Dach wandern, ob ich nicht eine kleine schwarze Katze entdecken konnte. Nichts. Andrea war einen Tag zuvor ausgezogen und hatte uns versichert, dass die Katze noch lebte. Vielleicht hatte sie vergessen zu erwähnen, dass sie völlig verwildert war.
Voller Unruhe half ich Philip und Rob dabei, die Koffer aus dem Taxi zu laden. Das Tor öffnete sich nach wie vor mit dem gewohnten klagenden Quietschen. Ein Windstoß fuhr durch den Zylinderputzer.
»Cleo!«, rief Rob mit seiner neu erworbenen Männerstimme, die noch etwas krächzte.
Ein schwarzer Schatten trottete von der Seite des Hauses auf uns zu. Ich hatte ganz vergessen, wie klein sie war. Zunächst schritt sie ganz geschäftsmäßig, so als wäre sie aufdem Weg zum Briefkasten, um nach Spinnen zu sehen. Dann zögerte sie, zuckte mit den Ohren und blickte uns finster an. Einen Moment lang fürchtete ich, sie würde den Schwanz
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