Cleo
in den Vorgarten. Als ich sie wieder öffnete, hüpfte die Drossel ins Gras. Erst schwankte sie unsicher, dann flog sie aufgeregt flatternd auf einen Ast. Dort hockte sie eine Weile und tat so, als existierte ich nicht. Als ich sie rief, flog sie rasch über das Tal zu den Fichten. Ich erwartete, dass die kleine Drossel noch einmal zurückkehren würde, um sich zu bedanken. Aber das tat sie nie.
Die Seemöwe drehte ab und stieß zum Fähranleger am Hafen hinunter. Seit unser älterer Sohn in seinem weißen Sarg auf dem Hügel hinter Lenas Haus begraben worden war, waren fünf Wochen vergangen. Wir hatten das Grab ein paar Mal besucht. Nur fand ich auf der windumtosten Kuppe, auf der sich der Makara Cemetery mit seinen ordentlich aufgereihten Grabsteinen befand, keinen Trost. Anfangs hatte es eine Zeit gedauert, bis wir inmitten dieses riesigen Mosaiks des Schmerzes die Stelle mit Sams Grab wiedergefunden hatten. Steve bemerkte, dass es in derselben Reihe wie das Klohäuschen lag. Ich meinte fast, Sam darüber lachen zu hören. Klowitze hatte er immer besonders lustig gefunden. Passend unpassenderweise war er zwischen zwei Leuten begraben worden, die beide weit über achtzig geworden waren. Meine Tränen benetzten das Gras, als ich vor dem Grab kniete und etwas von ihm an diesem Ort zu finden versuchte. Aber in den knorrigen Büschen, die sich gegen den Wind stemmten, war nichts von ihm. Genauso wenig in den Wolken, die über den Himmel irrten. Oder in den blökenden Schafen. Sam passte nicht in diese Ödnis.
Ich kam mir in dieser Zeit wie eine Schauspielerin vor, die im falschen Kostüm steckte. Äußerlich glichen wir den Leuten, die wir noch vor gut einem Monat gewesen waren. Wir fuhren dasselbe Auto, kauften in demselben Supermarkt ein. Aber meine Organe fühlten sich an, als wären sie mit Stahlwolle geschrubbt und neu angeordnet worden. Der Schock wahrscheinlich. Ich glaubte nicht mehr daran, dass es gut war, zu leben. Es brauchte nicht viel, damit Hass und Wut in mir aufflammten. Ich war wütend auf die beiden Leute, die neben Sam lagen. Sie hatten kein Recht gehabt, so alt zu werden.
Das neue Schuljahr hatte angefangen, aber wir hatten beschlossen, Rob noch ein paar Wochen zu Hause zu behalten. Er sprach kaum jemals von Sam, aber nach wie vor trug er jeden Tag die Superman-Uhr. Vielleicht glaubte er, dass die Action-Figur an seinem Handgelenk eine Art Hotline zu seinem Bruder darstellte. Wenn jemand einen Superhelden brauchte, dann war es Rob. Wäre Superman doch nur mit dem lachenden Sam in seinen Armen durch das Fenster gesprungen.
Ich fragte mich langsam, ob das Bemerkenswerte an einem Superhelden tatsächlich seine Heldentaten waren oder nicht vielmehr der Umstand, dass er auch ein Leben als ganz normaler Mensch führte und darum kämpfen musste, von anderen akzeptiert zu werden. Die meisten Jungen finden sich in dem trotteligen Clark Kent wieder, der von der Frau, die er liebt, abgewiesen wird. Wie in Clark Kent steckt in allen Jungen ein Held. Die einzige Hoffnung, jemals einen echten Superman kennenzulernen, besteht darin, selbst einer zu werden, und das führt letztlich bei den meisten jungen Männern unweigerlich zu einer Enttäuschung. Noch im fortgeschrittenen Alter sehnen sie sich nach Superman. Siesuchen ihn in Sportassen, Rockstars, Millionären. Dabei ist der wahre Held ganz nah. Er ist in ihnen.
Auch wenn ich es nur ungern zugab, Cleo half mir über vieles hinweg. Egal ob tags oder nachts, sie schien es zu spüren, wenn ich den Boden unter den Füßen verlor. Dann schob sich eine Pfote unter einem Türspalt durch und sie sprang auf mein Bett oder setzte sich vor mich hin, ohne dass sie etwas gefordert hätte. Sie schnurrte leise und wartete geduldig darauf, dass ich wieder zu mir kam.
Selbst ihre Zerstörungslust schien einen Zweck zu haben. Sie zwang uns dazu, uns mit dem Hier und Jetzt auseinanderzusetzen. In den Momenten, in denen ich sie wegen irgendwelcher Zugschnüre und umgeworfener Bilderrahmen ankeifte, verzehrte ich mich nicht nach Sam. Sie brachte einen zur Raserei, spielte uns dauernd dumme Streiche und platzte fast vor Zuneigung – sie war das Leben selbst, reine Energie von der Spitze ihres Schwanzes bis zu den Enden ihrer Schnurrhaare. Damit hatte sie mehr von Sam als der Wind und der Himmel über dem Friedhofshügel.
Nur Steve war offenbar anderer Meinung. Ich hatte ihm erzählt, wie Sam Cleo ausgesucht hatte, und ich hatte den Eindruck, dass Steve die Katze immer mit
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