Cleo
Horizonte hinweg an.
»Ja. Vielleicht … ach, was weiß ich.«
»Du bist definitiv kein Katzentyp«, sagte sie. »Wenn du einer wärst, wüsstest du es. Das ist wie bei Christen undMoslems. Du weißt es ganz einfach, wenn du eins von beiden bist.«
Rosie war nicht wie ich mit der anglikanischen Kirche aufgewachsen, wo man das Vaterunser runterrasseln, Kirchenlieder singen und lauwarmen Tee schlürfen konnte, während man tunlichst dem Vikar auswich, und dann nach Hause ging, ohne sich in irgendeiner Weise der Gemeinde zugehörig zu fühlen.
Dafür war sie ein Katzentyp der Extrasorte. Sie hatte sechs Streuner aufgenommen, die sie Scruffy, Ruffy, Beethoven, Sibelius, Madonna und Doris genannt hatte, wobei man von dem Namen keinerlei Rückschlüsse auf das jeweilige Tier ziehen konnte. Aufgenommen war auch nicht das richtige Wort. Genauer gesagt hatte Rosie eine sechsköpfige Gaunerbande auf vier Pfoten dazu eingeladen, in ihr Haus einzufallen und ihren Besitz zu dezimieren. Sie waren bis in die Krallenspitzen hinein undankbare Vertreter ihrer Gattung, die ihre Gardinen zerfetzten und ihre Möbel zerkratzten, während sie im ganzen Haus einen unverkennbaren Ammoniakgestank verbreiteten. Wenn sie nicht gerade dabei waren, mit anderen Streunern zu raufen und Mülltonnen zu plündern, durchstreiften sie mordend die heimische Tierwelt. Wann immer sich ein Mensch durch Rosies Gartentor traute, lauerten ihm dort schon sechs finstere Gesellen in den Blumenbeeten auf. Aber all das änderte nichts daran, dass sie, wie Rosie sagte, einen wunderbaren Charakter besaßen und extrem niedlich und anbetungswürdig waren.
Rosie wusste einfach alles über Katzen. Es war klar, dass sie es dank ihres Katzenradars erfuhr, wenn ein Mitglied aus der großen Katzenfamilie dazu gezwungen wurde, bei uns auf dem Ziegenpfad zu leben.
»Sie ist nicht gerade eine Schönheit, was?«, fuhr Rosie fort. »Ich habe schon Golfbälle gesehen, die mehr Fell hatten. Irgendwie macht sie den Eindruck, als käme sie aus einem Gefangenenlager. Und dann diese Augen. Sie sind irgendwie … Glubschaugen.«
»Niemand ist vollkommen«, sagte ich und verspürte ungewohnte Solidarität mit Cleo. »Außerdem ist sie ja noch nicht ganz ausgewachsen.«
»Hm«, sagte Rosie zweifelnd. »Halb Abessinier, oder? Bekannt für ihre Liebe zum Wasser und zu erhöhten Punkten.« Rosie ließ keine Gelegenheit aus, mit ihrem Wissen anzugeben. »Selbst wenn man bedenkt, dass sie mit asiatischen Kurzhaarkatzen verwandt ist, die leichter gebaut sind und daher warmes Klima besser vertragen als ihre robusteren Artverwandten aus Europa, ist sie ziemlich dünn. Was gibst du ihr zu fressen?«
»Katzenfutter«, seufzte ich.
»Ja, aber welches Katzenfutter?«
»Keine Ahnung. Irgendwas aus dem Zoogeschäft.«
»Mit Vitaminzusätzen?«, bohrte sie nach.
»Klar«, log ich und wechselte schnell das Thema. »Möchtest du sie mal Strumpfball spielen sehen?«
Ich ließ Cleo eine Socke vor der Nase baumeln. Cleo tat so, als hätte sie keinen Schimmer, was das sollte.
Rosie schüttelte den Kopf. »Katzen spielen nicht Fangen«, sagte sie. Ihre hellbraunen Locken fielen ihr ins Gesicht, als sie nach ihrer roten Handtasche griff. Ich verspürte leichte Gewissensbisse. Sie konnte zwar ziemlich nerven, aber sie war auch eine treue Seele. Viele unserer Freunde hatten sich mit irgendwelchen fadenscheinigen Ausreden von uns zurückgezogen.
Rosie verhielt sich seit Sams Tod kein bisschen anders alssonst. Sie war so angenehm diktatorisch und lustig wie immer. Und sie sprach auch nicht in diesem merkwürdig gedämpften Tonfall mit mir, der vermuten ließ, dass auf diesem Haus irgendeine Art Fluch lag.
»Die kannst du bestimmt brauchen«, sagte sie und schob mir zwei zerlesene Bücher zu. Die Kinderstube der Kätzchen und Deine Katze und ihre Gesundheit . »Ach ja, und das hier ist vielleicht auch ganz nützlich.«
Meine herrische, verrückte, liebe Rosie. Mochte sie auch noch so viele Marotten haben und überzeugt sein, dass ich nur das Schlechteste für Cleo im Sinn hatte, im tiefsten Herzen war sie ein guter Mensch. Warum sonst sollte sie mir zusammen mit den Katzenbüchern kommentarlos Über den Tod und das Leben danach von Elisabeth Kübler-Ross überreichen?
Ich hatte von den fünf Phasen des Sterbens gelesen, die Kübler-Ross beschrieben hatte, um Menschen den Umgang mit ihrer Trauer zu erleichtern. Vieles davon erkannte ich wieder.
1. Nichtwahrhabenwollen und Isolierung. So war
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