Cleo
es in diesen ersten schrecklichen Momenten nach Steves Anruf bei Jessie. Aber ich befand mich auch jetzt noch oft im Zustand des Nichtwahrhabenwollens. Noch immer sah ich Sam um Straßenecken und durch Einkaufszentren rennen und lachen, dabei waren es allesamt nur blonde Betrüger. In den Tiefen meines Unterbewussten hauste ein Wesen, das sich an den Worten des Notarztwagenfahrers festklammerte, Sam hätte im Falle seines Überlebens nur noch »dahinvegetiert«. Jede Woche träumte ich mehrmals, alle hätten beschlossen, vor mir geheim zu halten, dass Sam noch am Leben war. Immer wenn ich im Traum hinter diese Lüge kam, raste ich durch labyrinthische Krankenhausgänge, bis ichihn in einem abgedunkelten Zimmer fand, wo er an Maschinen angeschlossen dalag. Er drehte seinen Kopf und starrte mich mit seinen blauen Augen an, genau wie damals nach seiner Geburt. Dann wachte ich mit rasendem Herzen auf, das Kissen nassgeschwitzt.
2. Zorn. Es hätte mir geholfen, wenn ich nach ein paar Wochen die Phase des Nichtwahrhabenwollens und der Isolierung endgültig hinter mich gebracht hätte und entschlossen in die des Zorns eingetreten wäre. Beim Anblick von Tauben, die wie Papierfetzen über den Himmel flatterten, kochte zwar jedes Mal schreckliche Wut in mir auf, genauso wie bei dem von Frauen, die einen Ford Escort fuhren, nein, eigentlich bei allen Frauen, die Auto fuhren, und auch beim Anblick von Sams Schulfreunden, die die Unverschämtheit besaßen, noch zu leben. Wenn ich nur mit Sicherheit gewusst hätte, dass diese Zornesphase vorüberging. Das Problem war, dass ich sowohl zornig war als auch nicht wahrhaben wollte. Und ja, ich hatte auch schon ein paar Versuche unternommen zu …
3. Verhandeln. Im Badezimmer oder im Auto führte ich manchmal einseitige Verhandlungen mit Gott, bei denen ich ihn (beziehungsweise sie, wenn ich Rosie Glauben schenken wollte) aufforderte, die Uhr zurückzudrehen und die Ereignisse des 21. Januars um fünf Sekunden zu verschieben, so dass das Auto den Hügel herunterfuhr, bevor Sams Fuß den Asphalt berührte, die Taube beim Tierarzt landete und wir uns alle um den Küchentisch setzten und Steves Zitronen-Baiser-Kuchen aßen. Was kosteten jemanden (oder etwas) so Allmächtiges wie den großen Schöpfer schon ein paar Drehungen an der Zeitschraube? Als Gegenleistung würde ich alles tun, was er (oder sie) forderte, einschließlich ins Kloster gehen, mit Frauenrugby anfangen und so tun, alswürde ich gerne in Zelten schlafen. Das alles würde mich bewahren vor …
4. Depression. Die Trauer hat viele Gewänder in ihrem Schrank. Für tagsüber reicht meist das schlichte Selbstmitleid, das Leidende manchmal gedankenlos Depression nennen. Postnatale Depression ist schon ein bisschen schicker. Für richtig offizielle Anlässe (komplett mit stationärem Aufenthalt, Psychiatern und Tabletten) gibt es die klinische Depression, die Selbstmordneigung und zu guter Letzt den Wahnsinn.
Meine Onkel kamen völlig verändert aus dem Ersten Weltkrieg zurück und es hieß, sie seien depressiv, möglicherweise sogar verrückt. Einer von ihnen wurde in eine Anstalt eingewiesen. Eine unverheiratete Tante von mir sprach jahrelang kein Wort, nachdem meine Großeltern darauf bestanden hatten, dass sie ihre Affäre mit der örtlichen Postamtsvorsteherin beendete. Verständnisvoll und mitfühlend, wie es typisch für das ländliche Neuseeland in den 1930er-Jahren war, nannte die Familie sie nur noch die Trauerweide. Ich fand, meine Tante und meine Onkel hatten allen Grund, depressiv zu sein.
Diese Spielarten der Trauer werden zwar alle in denselben Schrank gesteckt, aber sie haben ungefähr so viel miteinander zu tun wie eine Kittelschürze mit einem Dior-Kleid.
Das Wort Depression konnte den Ozean der Melancholie nicht fassen, auf den ich immer weiter hinaustrieb. Er hatte kein Ufer. Er hatte keinen Grund. An manchen Tagen kämpfte ich darum, an der Oberfläche zu bleiben. An anderen Tagen trieb ich reglos wie ein abgebrochener Weidenzweig auf dem Wasser dahin. Es war einfach lächerlich, dass Kübler-Ross glaubte, diesen Zustand mit den Begriffen»Phase« und »Depression« beschreiben zu können. Und dann auch noch davon auszugehen, dass es eine letzte Phase gebe, die der:
5. Akzeptanz. Nie, niemals kämen mir die Worte über die Lippen, dass es in Ordnung ist, wenn ein wunderschöner neun Jahre alter Junge stirbt. Kübler-Ross hat außerdem ein paar Phasen übersprungen, unter anderem
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