Cleo
blieb schlitternd am anderen Ende stehen. Sie drehte sich um, kauerte sich hin und starrte in die Papierhöhle, die Rob ihr präsentierte. Ihre Pupillen waren so stark geweitet, dass ihre Augen bis auf einen schmalen grünen Rand völlig schwarz waren. Sie verlagerte ihr Gewicht, hob die rechte Vorderpfote und ging in Angriffshaltung. Das Ganze lief in Zeitlupentempo ab und wurde so bedächtig ausgeführt, dass ihr Publikum beinahe das Interesse verloren hätte. Gerade als wir aufgeben und uns einer PackungSchokoladenkekse zuwenden wollten, schoss ein schwarzer Pfeil über den Küchenboden und verschwand in dem zerknitterten Papierschlund.
»Sieh mal, Mummy«, sagte Rob und hob die Tüte in die Höhe, die auf einmal schön prall und schwer war.
Ich hatte schon die Hand ausgestreckt, um das Kätzchen aus seinem Papiergefängnis zu befreien, als die Tüte zufrieden zu schnurrren anfing.
Steve kam kurz vor zwölf zurück, halb durchsichtig und hohläugig stand er im Flur. Er hatte seine Krawatte gelockert, die ihm schlaff über die Brust hing.
Das Mitleid, das ich bei seinem Anblick empfand, wurde sogleich von einer rasenden Wut aufgezehrt. »Wie sieht sie aus?«, fragte ich und war selbst über die Härte in meiner Stimme überrascht.
»Warum bist du so wütend, Mummy?« Ich hatte nicht bemerkt, dass Rob mir mit der schnurrenden Papiertüte den Flur hinunter gefolgt war.
»Ich bin nicht wütend«, sagte ich mit kalter, rauer Stimme.
»Daddy, schau mal, was Cleo kann!« In dem Augenblick, als Rob Steve die Tüte hinhielt, streckte Cleo frech den Kopf aus der Öffnung.
»Jetzt nicht«, fuhr ich ihn an. »Bring sie bitte in die Küche.«
Rob spürte, dass etwas nicht stimmte, und gehorchte. Ich hoffte im Stillen, dass unser Sohn eines Tages in der Lage sein würde, uns zu verstehen und uns zu verzeihen.
»Und?«
»Keine Ahnung«, seufzte er und rieb sich müde die Augen. »Ganz normal …«
Ich nahm ihn ins Gebet. Sie hatte braune Haare, vielleichtauch dunkelblond. Sie war eher dicklich. Sie arbeitete für das Gesundheitsamt. Sie trug eine vermutlich marineblaue Jacke. Er konnte sich nicht mehr erinnern, ob sie eine Brille hatte. Sie hatten sich im Gerichtssaal kaum angesehen. Sie hatte traurig gewirkt, sich aber nicht entschuldigt.
Das reichte mir nicht, bei Weitem nicht. Die Form ihrer Nase, irgendwelche Leberflecke, ihr Geruch … Ich wollte jedes Detail wissen.
»Wie alt ist sie?«
»Mitte dreißig, schätze ich.«
»Muss sie ins Gefängnis?«
Sein Blick wanderte über meine linke Schulter und er schüttelte langsam den Kopf.
»Sie müssen sie doch wegen irgendetwas verurteilen. Wenigstens zu einer Geldstrafe!«
Eine Fliege flog summend eine Acht über seinem Kopf.
»Das können sie nicht.« Seine Stimme klang ruhig und freundlich, so als würde er mit einer Geisteskranken sprechen. »Es war ein Unfall.«
Was sollte das heißen, ein Unfall ?
Mein Kopf war plötzlich völlig leer. Genauso gut hätte er sagen können, dass der Himmel grün war. Wenn Sams Tod tatsächlich ein Unfall gewesen sein sollte und die Frau nichts dafür konnte, dann gab es niemanden, dem ich die Schuld geben konnte. Ich hatte kein Recht, sie zu hassen. Man könnte womöglich sogar von mir erwarten, dass ich ihr vergab.
Mein Herz zog sich zu einem kleinen harten Klumpen zusammen. Sollten ihr doch die Götter vergeben.
10
W iederbelebung
Katzen haben Verständnis dafür,
dass Menschen länger brauchen, um etwas zu begreifen.
Kaum hatte meine alte Schulfreundin Rosie gehört, dass wir eine Katze bekommen hatten, war sie nicht mehr zu bremsen. Bei ihrem ersten Anruf konnte ich sie noch abwimmeln. Aber eine solche Neuigkeit bedeutete für sie das Gleiche wie eine Büchse Sardinen für eine streunende Katze, und ein paar Tage nach der gerichtlichen Untersuchung überwand sie die unsichtbaren Mauern um unser Haus. Durch ihr Temperament und ihren Mangel an Taktgefühl hatte Rosie sich allerdings die Sympathien so mancher Leute verscherzt. Steve fiel plötzlich ein, dass er eine wichtige Verabredung in der Stadt hatte.
»Armes kleines Cleo-Kätzchen«, säuselte sie und musterte Cleo durch ihre riesige rote Brille. »Musst bei lauter Leuten wohnen, die überhaupt nichts mit Katzen anfangen können, hm?«
»Ich habe nie gesagt, dass ich nichts mit Katzen anfangen kann, Rosie.«
»Du willst also allen Ernstes von dir behaupten, dass du ein Katzentyp bist?«, fragte sie und blickte mich über die beiden roten
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