Cleopatra
reagierte auf mein Klingeln. Ich trat zurück und schaute hinauf. Alles hermetisch abgeschlossen. Ich schellte bei den Nachbarn.
Ein Auto hielt auf der Kreuzung am Ende der Straße und blieb zwei Sekunden stehen, als wolle der Fahrer den Straßennamen lesen oder suche einen Parkplatz. Doch die Straße war zugeparkt; ich hatte meinen BMW vor einer Garage abgestellt.
Eine junge Frau machte mir die Tür auf. Ich erklärte ihr, dass ich auf der Suche nach Herrn Mending sei.
»Pieter … Oh, Augenblick mal.«
Sie ließ die Tür offen und verschwand im Haus; ich hörte sie hastig die Treppe hinaufgehen. Vielleicht hatte sie diesen Pieter auf dem Speicher versteckt. Aber sie kam allein zurück, kaum eine Minute später. »Ja, er sitzt auf der Bank«, sagte sie. »Bei so schönem Wetter wie heute sitzt er jeden Nachmittag draußen, hier direkt hinter der Kirche. Er liest in der Bibel.«
Ich dankte ihr und fuhr um den Block. Neben der Kirche lag eine Art stiller, kleiner Klosterhof mit niedrigen Buchsbaumhecken, Kieswegen und ein paar Bänken. Ich sah Mending schon auf der Bank sitzen, als ich mein Auto parkte. Niemand sonst war dort. Er war ein fast kahlköpfiger, etwas korpulenter alter Herr. Er saß dösend zurückgelehnt auf der Bank, die Hände auf der geschlossenen Bibel, die auf seinen Knien lag.
»Herr Mending?«
Er öffnete die Augen. Er hatte dicke, buschige Augenbrauen, wässrige blaue Augen, bleiche Lippen und eine schmale Nase.
Er trug eine blaue Hose, die ihm um die Beine schlackerte, und einen dünnen Pulli über einem beigefarbenem Hemd. Wahrscheinlich rasierte er sich jeden Morgen mit einem altmodischen Rasiermesser, denn ich sah die Spuren dünner Schnitte auf seiner Wange.
Er räusperte sich und röchelte ein wenig.
»Mein Name ist Max Winter; ich komme aus den Niederlanden«, sagte ich. »Ich bin auf der Suche nach Ihrer Tochter Clara.«
»Clara?« Seine Stimme überschlug sich, wahrscheinlich vor Überraschung. Er blinzelte mit den Augen und starrte mich an.
»Darf ich mich setzen?«
Mending saß in der Mitte der Bank und rutschte nun mühsam ein Stück beiseite. Er wirkte verdattert. Mit den Händen umklammerte er die Bibel.
»Wissen Sie, wo ich sie erreichen kann?«, fragte ich.
Er schwieg einen Moment. »Worum geht es denn?«
Ich wollte ihn nicht mit einer Lüge abspeisen. »Wir sind auf der Suche nach einer niederländischen Frau, Cleopatra Cleveringa, die 1980 verschwunden ist. Es kann sein, dass sie verunglückt ist, aber wir wollen Gewissheit darüber haben. Ich habe gehört, Ihre Tochter Clara sei ihre beste Freundin gewesen.«
Sein Kopf wackelte auf und nieder, als würde er einnicken, aber er war keineswegs im Begriff einzuschlafen. »1980 verschwunden«, sagte er. »Und Sie suchen sie erst jetzt?«
Ich las keinen Spott in seinen Augen. »Ich weiß nicht«, sagte ich lahm. »Ich bin ja selbst nur beauftragt.«
»Von wem?«
»Vom Ermittlungsbüro eines Staatsanwalts.« Ich gab ihm meine Karte.
Er schaute sich die Karte an und wies mit dem Kinn darauf. »Eine Art Detektiv?«
»Richtig.«
»Ich kann Ihnen nicht helfen.« Wieder räusperte sich der alte Mann. »Ich habe schon seit fast zwanzig Jahren nichts mehr von ihr gehört. Das letzte Mal habe ich sie im Oktober 79 gesehen, auf der Beerdigung ihrer Mutter. Seit dieser Zeit wohne ich hier allein.«
Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die Patteelstraat. Hinter den Gärten zog sich eine von Toren durchbrochene Mauer entlang.
Deswegen musste die Nachbarin auch nach oben gehen, um den Kirchhof sehen zu können.
»Im Frühjahr 1980 hat sie ein paar Monate in Loosdrecht gewohnt«, sagte ich.
»Nie davon gehört.« Er strich über die Bibel.
Ich lehnte mich zurück, dort neben ihm auf der Bank.
»Ich verstehe das nicht ganz«, sagte ich vorsichtig. »In Familien können sich natürlich alle möglichen Dinge ereignen; Eltern und Kinder können sich entfremden, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass eine Tochter nach dem Tod ihrer Mutter zwanzig Jahre lang nichts von sich hören lässt.«
»Da sieht man’s mal wieder«, sagte er gelassen.
»Haben Sie noch andere Kinder?«
»Außer Clara, meinen Sie?«
Er schüttelte den Kopf. Seine Augen drückten irgendetwas aus, aber ich konnte nicht erkennen, was es war. Ärger, Schuld, Reue – es hätte alles sein können. Er strich über die Bibel. »Clara war fünfzehn, als ich Anniek heiratete. Es war meine zweite Ehe und Annieks erste.«
Ich verstand, was er damit
Weitere Kostenlose Bücher