Cleopatra
– als ob sich Leo Lampert in diesem Augenblick für den Hexenkessel auf der Autobahn nach Paris interessiert hätte.
»Wir wohnen am Rijsselseweg …«
»Ich habe Ihre Adresse. Ich bin schon auf dem Weg.«
Ich brauchte nur auf Wahlwiederholung zu drücken, um Lonneke zu erreichen. Sie war nicht begeistert von dem Aufschub und reagierte wie eine im Stich gelassene Ehefrau, als ich mich weigerte, ihr die Gründe zu nennen.
Es ging sie jedoch nichts an, noch nicht, jedenfalls.
Ich brauchte mehr als drei Stunden. Zu dem üblichen Hexenkessel kam noch eine Umleitung in der Nähe von Gent hinzu infolge eines Unfalls. Bevor die Schlange auf meiner Spur im Schritttempo vom Fahrstreifen hinuntergeleitet wurde, sah ich einen Lkw in der Leitplanke, einen umgestürzten Wohnwagen mitten auf der Fahrbahn, Autos an der Seite, ein Feuerwehrauto, die Blaulichter der Krankenwagen.
Man fragt sich allmählich, warum überhaupt noch jemand das Risiko eingeht, mit dem Auto in Urlaub zu fahren oder daraus zurückzukehren.
Den Futurologen zufolge befinden wir uns, was den Verkehr betrifft, in einer Übergangsphase. Die Probleme seien eine Folge übermäßigen Wachstums – zu viel des Guten mit denselben althergebrachten Mitteln. Doch neue Möglichkeiten zeichnen sich ab: Man tippt ein Ziel in den Computer ein und das aufprallsichere Fahrzeug bringt einen schnell und gefahrlos, wohin man will. Der Mensch ist der letzte gefährliche Faktor: Holt man ihn aus der Maschine heraus, sind alle Probleme – abgesehen von Erdbeben und Überbevölkerung – gelöst.
Eine junge Frau von etwa zwanzig Jahren öffnete die Tür des frei stehenden Hauses, das von einem üppig bewachsenen Garten umgeben war. Wieder hatte ich eine Art Déjà-vu-Erlebnis, denn sie besaß dieselbe mollige Figur wie Irene und ähnelte ihr auch vom Gesicht her. Sie schaute mich jedoch nicht freundlich, sondern traurig und reserviert an. Sie trug eine Brille; das war das Einzige, was sie, außer ihrem Alter, von Irene unterschied.
Die schlechten Augen hatte sie von ihrem Vater, stellte ich fest, als sie mich hereinließ. Leo trug eine Hornbrille mit dicken Gläsern, die seine blauen Augen stark verzerrten. Wenn sich sein Gesichtsausdruck änderte, schienen sie plötzlich aufzuleuchten und an Volumen zuzunehmen, als führten sie ein Eigenleben.
»Das ist Lieneke«, sagte Leo, »unsere Tochter. Ich habe auch noch einen zwanzig Jahre alten Sohn. Er ist gestern nach Gent zurückgefahren, er studiert da an der Universität. Er wollte eigentlich hier bleiben, aber …«
Die ganze Zeit nickte ich zustimmend. Leo war durcheinander und dann reden die Leute so – als würde jeder verstehen, was sie sagen, obwohl sie es selbst nicht verstehen. Er war einen halben Kopf kleiner als seine Tochter und Irene, und ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Er hatte den Mund eines fröhlichen flämischen Schwätzers, der neugierig und an allem interessiert war und immer alles wissen wollte, doch jetzt war von Fröhlichkeit keine Spur und hinter den dicken Brillengläsern schwammen seine Augen in Seen von Traurigkeit.
»Bitte«, sagte er plötzlich geschäftig, als fielen ihm seine Pflichten als Gastgeber wieder ein. »Setzen Sie sich doch hierher auf das Sofa, das ist der beste Platz, möchten Sie vielleicht etwas essen? Wir haben …«
Er hielt inne und schaute seine Tochter an, die in der Tür stand. »Du kannst jetzt ruhig nach Hause gehen«, sagte er. »Ich komme mit Herrn Winter schon allein zurecht.«
»Max«, sagte ich.
Die junge Frau schien zu zögern.
»Bitte«, sagte Leo. »Du hast doch auch ein eigenes Leben.«
Lieneke nickte und ging zu ihrem Vater. Sie küsste ihn vorsichtig auf die Wange, als sei er ein Gefäß, das durch eine falsche Bewegung oder durch zu heftigen Trost zum Überlaufen gebracht werden könne.
»Das Essen steht in der Küche«, sagte sie.
Leo klopfte ihr auf die Schulter. Ich dachte bei mir, dass ein Vater seine Tochter bestimmt umso nötiger brauchte, wenn die Mutter nicht mehr da war. Ich weiß zu wenig über Trauer und fühle mich, wie gesagt, Angehörigen gegenüber immer unsicher und finde keine Worte. Wobei die Trauer der Menschen von unterschiedlicher Art sein kann. Wenn ein enges Verhältnis bestand zwischen Mann und Frau oder zwischen Eltern und Kind, hat die Trauer eine andere Qualität als bei dem Verlust eines Partners in einer schlechten Ehe, die sowieso schon kurz davor war, in die Brüche zu gehen. Doch selbst dann kann einen der
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