Cleopatra
Fenster herunterkurbeln und in schnellem flämischen Dialekt nach dem Weg fragen, bevor er die freundliche Sackgasse fand, an deren äußerstem Ende sich das Haus von Frau Boerman befand. Er hatte ein spannendes Buch dabei und erklärte sich gern bereit, eine halbe Stunde zu warten.
Es war ein frei stehendes, ziemlich großes Holzhaus im norwegischen Stil, umgeben von einem gepflegten Garten.
Frau Boerman machte einen bemerkenswert rüstigen Eindruck für eine Dame, die in den Siebzigern sein musste. Sie hatte ein Großmuttergesicht mit roten Apfelbäckchen und hellen Augen, die den Optimismus einer Person ausstrahlten, die gedachte, hundert Jahre alt zu werden, ohne dabei zu verbittern. Anstandslos führte sie mich in ihr geräumiges, holzverkleidetes Wohnzimmer.
»Ein schönes Haus«, sagte ich. »Wohnen Sie hier ganz allein?«
»So lange ich es noch kann«, antwortete sie. »Ich habe halbtags eine Haushaltshilfe und meine Tochter wohnt hier in der Nähe. Ich will versuchen, die Altenpflege noch möglichst lange hinauszuschieben. Kann ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«
Ich erklärte, dass mein Taxi vor dem Haus warte und ich sie nicht lange stören wolle.
»Sie stören mich nicht. Es hat auch schon eine Dame bei mir angerufen. Warum interessieren sich denn so plötzlich alle für Matthieu?«
»Diese Dame ist eine Mitarbeiterin von mir«, sagte ich. »Die Sache ist ziemlich kompliziert.«
Ich schaute ihr in die Augen und fragte sie: »Fällt es Ihnen schwer, über Ihren verstorbenen Sohn zu sprechen?«
Ohne lange darüber nachzudenken antwortete sie: »Nein, überhaupt nicht. Es ist traurig, es ist lange her, ich war seine Mutter, es war Krebs und das war furchtbar. Er war noch so jung. Er war gerade erst frisch verheiratet und hatte eine Stelle an der Genter Universität.«
»Er hat in Amsterdam studiert?«
»Ja. Sein Onkel Jean-Marie hatte es ihm damals vorgeschlagen. Mein Schwager hat keine Kinder. Er hat Matthieu schon von Kind an sehr gern gehabt, und als mein Mann starb, wurde er eine Art zweiter Vater für ihn. Jean-Marie ist ein guter Mensch. Manche Leute sind sehr reich und haben trotzdem ein Herz.«
»Sagt Ihnen der Name ›Belegtes Brötchen‹ etwas?«
»Ja, natürlich.« Ihr Gesicht wurde plötzlich ernst.
»Haben Sie keine guten Erinnerungen daran?«
Sie seufzte. »So, wie die Sache sich abgespielt hat, war es eine Enttäuschung für Matthieu. Offenbar stand in den Statuten, dass eine Mehrheit die Minderheit dazu zwingen kann, ihren Anteil abzutreten. Die beiden anderen wollten offensichtlich große Geschäfte machen und dabei konnten sie Matthieu nicht gebrauchen. Sie haben ihn ausgezahlt, das muss 1972 gewesen sein, glaube ich.«
»Die beiden anderen waren Barend Scholte und Josef Cleveringa?«
»Ja. Der ist ja dann später Minister geworden«, fügte sie ein wenig bitter hinzu.
»Hat Matthieus Onkel nichts dagegen unternommen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Jean-Marie sagte: Finde dich mit deinem Verlust ab und steig aus. Mach keine Geschäfte mit Leuten, denen du nicht vertrauen kannst.«
»Konnte man ihnen denn nicht vertrauen?«
»Ach, Sie wissen doch … bei manchen Leuten ist das einfach so: Je mehr Geld sie wittern, desto weniger sind sie bereit zu teilen. Erst ging es nur um kleine Beträge; es war mehr eine Art Wettbewerb. Sie trugen abwechselnd die Verantwortung, kauften kleine Anteile, um zu sehen, wer der Geschickteste war … Deshalb hat ihnen Jean-Marie anfangs auch geholfen. Er fand, es sei eine gute Gelegenheit für seinen Neffen, Erfahrungen mit Anteilen und Kapitalanlagen zu sammeln.«
»Wie hat er ihnen denn geholfen?«
»Man brauchte, glaube ich, damals in den Niederlanden um die vierzigtausend Gulden für die Gründung einer GmbH. Matthieu besaß kaum etwas und die anderen beiden behaupteten, sie kämen zusammen nur auf zwölftausend Gulden.«
»Das behaupteten sie?«
»Im Nachhinein vermute ich, dass sie ihn ausgenutzt haben, weil sie herausgefunden haben, dass Jean-Marie reich war. Für Jean-Marie war dieser Betrag nur eine Kleinigkeit und er liebte seinen Neffen. Er hat den vollständigen Betrag vorgeschossen, damit sie noch etwas übrig behielten, um direkt anfangen zu können. Ihm machte es nichts aus und er freute sich darüber, dass sein Neffe so begeistert davon war. Warten Sie mal …«
Sie holte ein Fotoalbum aus einem Weichholzbüfett hervor. Sie blätterte es durch und legte es mir auf den Schoß.
»Jedes Jahr gingen sie von dem Gewinn in
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