Cleverly, Barbara - Die List des Tigers
Claude verwirrt hatte? Joe konnte sich keinen anderen Grund für diesen selbstmörderischen und unnötigen Angriff vorstellen. Seine Hand fahr automatisch zum Griff seines Revolvers, als sich Ajit in Zeitlupe zu Claude umdrehte.
Ajit zog keinen Dolch, um Claudes Hals aufzuschlitzen, wie Joe fast erwartet hätte. Stattdessen offenbarte er dünnlippig ein Lächeln - wie mit einem Skalpell ins Gesicht geritzt - und sprach in einem Tonfall schnurrender Bedrohlichkeit.
»Warum ich nicht geschossen habe, als sie sich mir darbot, wie Sie es so akkurat beschreiben? Mein Prinz«, er wies ehrfürchtig auf die Leiche zu seinen Füßen, »sollte die Gelegenheit bekommen, sie als Trophäe zu schießen. Der Tiger ist ein königliches Tier und sollte von Prinzen erlegt werden, nicht vom gemeinen Volk. Ich hielt mich zurück, wartete auf den Schuss von seinem Machan, aber der kam nicht, und die Tigerin lief in die Abschnitte der anderen.«
Das Lächeln intensivierte sich in vernichtender Höflichkeit. »Aber sagen Sie uns, Vyvyan, warum wir Sie hier sehen, über und über bedeckt mit königlichem Blut? Ihr Machan war nur wenige Meter von diesem Gemetzel entfernt! Haben Sie nichts gesehen, was Sie auf die drohende Gefahr hätte aufmerksam machen können?« Seine Stimme raspelte voller Emotionen, die sich immer schwerer zurückhalten ließen. »Wie froh wäre ich gewesen, mich zwischen meinen Prinzen und das Maul des Tigers zu werfen!«
Joe glaubte ihm.
Vyvyan wurde steif wie ein Brett und schien eine weitere unpassende Salve auf Ajit abfeuern zu wollen, als Shubhada eingriff. »Vyvyan!« Ihre Stimme war scharf, ließ ihn erstarren. »Es gibt keine Veranlassung, Ajit Singh hierfür verantwortlich zu machen!«
Colin, der den Unglücksort untersucht hatte, richtete sich auf und stellte sich zwischen Ajit und Claude. »Ihre Hoheit hat Recht. Es gibt nichts, was einer von Ihnen hätte tun können«, sagte er. »Es war der junge Tiger, der ihn tötete. Er muss hier schon gelegen haben, als wir uns auf die Machans verteilten. Und als Bahadur dann nach unten kletterte und nichts ahnend ins Dickicht schlenderte, überraschte er das Tier, und es stürzte sich auf ihn. Normalerweise hätte sich ein Tiger einfach davongeschlichen, und Bahadur hätte von seiner Anwesenheit nichts mitbekommen, aber dieser hier war ein Menschenfresser, der jeden Respekt vor dem Menschen verloren hatte. Dann ertönte das Signalhorn, und die Trommeln setzten ein, und er schlich sich quasi durch die Hintertür hinaus.
Sehen Sie, hier ... und da. Es finden sich ein paar Pfotenabdrücke, wenn man genau hinsieht, aber der Boden ist derart niedergetrampelt, dass ich nicht genau feststellen kann, wo das Tier ausbrach.
Während wir also alle den Nullah im Visier hatten, schlich es sich zum Ausgang des Tales bei Joes Baum und tat, ängstlich und wütend, das, was Menschenfresser eben so tun - es stürzte sich auf Joe, der ein perfektes Ziel abgab.«
»Ein junger Tiger, sagten Sie?« Claude klang verwirrt.
»Es gab zwei. Die Mutter und ein erwachsenes Jungtier. Das Junge tötete Bahadur und beinahe auch Joe.« Edgar wies auf das blutgetränkte Taschentuch um Joes Arm.
Claude schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte.
»Wie nützlich es doch gewesen wäre, wenn wir von der Anwesenheit zweier Tiger in Kenntnis gesetzt worden wären.« Ajit funkelte Colin finster an, seine Wut suchte immer noch einen Sündenbock. »Hätten wir gewusst, dass ein zweiter Tiger auf der Lauer lag, hätte niemand allein und ohne Gewehr auf dem Waldboden sein Leben riskiert.«
»Zeit! Wenn man mir die Zeit zugestanden hätte, um die ich bat, dann ...«, wollte Colin protestieren.
In all seinem Schock und seiner Trauer war sich Joe des Machtkampfes bewusst - oder zumindest des Kampfes gegen Schuldzuweisungen -, der über seinem Kopf tobte, während er am Boden kniete und die Leiche genauer inspizierte. Er hörte zu und beobachtete, wusste, dass er den gegenseitigen Beschuldigungen Einhalt gebieten sollte, bevor er es mit einem weiteren Mord zu tun bekam, aber sein professionelles Interesse machte ihn zum stummen Beobachter, und so war es Edgar, der der hässlichen Szene ein Ende bereitete.
»Hören Sie auf!«, erklärte er mit Entschiedenheit. »Ich habe schon Schakale erlebt, die sich über eine Beute friedlicher gestritten haben!«
Seine plumpe Bemerkung kühlte die Hitzköpfe genügend ab, damit Joe sich erheben und einen Arm ausstrecken konnte - unbewusst seinen klauenzerfetzten,
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