Clockwork Princess: Chroniken der Schattenjäger (3) (German Edition)
Luft und sein Herz setzte in einer Mischung aus Angst und Verzweiflung einen Schlag aus. Hing dieser Schmerz vielleicht mit seiner Entfernung zu Jem zusammen? Nie zuvor hatte er etwas Derartiges gespürt, nicht einmal, als Jem nach einer Verletzung in sehr schlechtem Zustand gewesen war und Will hilflos mit ihm mitgefühlt hatte.
Das Band zerriss.
Um Will herum wurde alles weiß – der Innenhof verblasste, als wäre er mit Bleiche übergossen worden. Will krümmte sich zusammen und erbrach sein Essen in den Schlamm. Als die Krämpfe nachließen, richtete er sich schwankend auf und torkelte blind vom Wirtshaus fort, als könnte er so seinem eigenen Schmerz entfliehen. Taumelnd stieß er gegen eine der Mauern des Stalls und sank neben der Pferdetränke auf die Knie, um die Hände in das eisige Wasser zu tauchen … Und dann sah er sein eigenes Spiegelbild: sein Gesicht, so weiß wie ein Leichentuch, sein Hemd und ein roter Fleck auf der Brust, der sich rasch ausbreitete.
Zitternd griff er sich an den Kragen und riss das Hemd auf. Im schwachen Licht, das aus der Tür des Wirtshauses fiel, konnte er erkennen, dass seine Parabatai rune, direkt über seinem Herzen, stark blutete. Seine Hände waren mit Blut bedeckt – Blut, das sich mit dem Regen vermischte, demselben Regen, der das Blut von seiner Brust spülte und so das Runenmal zum Vorschein brachte, das langsam von Schwarz zu Silber verblasste und alles bedeutungslos werden ließ, was zuvor in Wills Leben eine Bedeutung gehabt hatte.
Jem war tot.
Stundenlang war Tessa dem Fluss gefolgt. Inzwischen hatte sie Blasen an den Füßen, ihre dünnen Schuhsohlen waren durchgelaufen. Anfangs war sie förmlich über das felsige Geröll am Ufer gerannt, doch schon bald hatten sich Erschöpfung und Kälte bemerkbar gemacht und inzwischen humpelte sie nur noch langsam, aber unbeirrt stromabwärts. Der schwere Stoff ihrer durchnässten Röcke hing an ihr wie ein Anker, der sie auf den Boden eines grausamen Meeres zu zerren drohte.
Meilenweit war keine einzige menschliche Siedlung zu sehen und Tessa bekam allmählich Zweifel an ihrem Plan, als vor ihr endlich eine Lichtung auftauchte. Trotz des Nieselregens, der inzwischen eingesetzt hatte, konnte sie die Umrisse eines niedrigen Natursteingebäudes ausmachen. Beim Näherkommen erkannte sie, dass es sich um ein kleines Haus handeln musste, mit einem reetgedeckten Dach und einem überwucherten Pfad vor der Haustür.
Voller Hoffnung eilte Tessa auf das Gebäude zu. In Gedanken sah sie bereits ein freundliches Farmerehepaar vor sich, die Sorte, wie man sie aus Büchern kannte: hilfsbereite Leutchen, die ein junges Mädchen bei sich unterbringen und ihr dabei helfen würden, Verbindung mit ihrer Familie aufzunehmen – so wie die Familie Rivers der Heldin in Jane Eyre beigestanden hatte. Doch als Tessa sich dem Haus näherte, bemerkte sie die schmutzigen und zerbrochenen Fensterscheiben und das hohe Gras auf dem Reetdach. Ihr sank der Mut. Das Haus war leer; hier lebte niemand mehr.
Die Haustür stand einen Spalt auf, das Holz hatte sich vom Regen vollkommen verzogen. Der Anblick des verlassenen Gebäudes hatte etwas Beängstigendes, aber Tessa brauchte unbedingt Schutz vor dem Regen und potenziellen Verfolgern, die Mortmain wahrscheinlich auf ihre Spur gesetzt hatte. Obwohl Mrs Black hoffentlich annahm, dass sie bei dem Sturz in die Schlucht ums Leben gekommen war, bezweifelte Tessa, dass Mortmain sich so leicht abschütteln ließ. Denn wenn jemand wusste, wozu ihr Klockwerk-Engel fähig war, dann ja wohl er.
Gras wuchs zwischen den Steinplatten des Küchenfußbodens und über der schmutzigen Feuerstelle hing noch ein rußgeschwärzter Topf, während die einst weiß getünchten Wände grau und staubig wirkten. In der Nähe der Tür lag ein Haufen landwirtschaftlicher Geräte, darunter auch ein dünner Metallstab mit mehreren gebogenen Zinken am oberen Ende, die ziemlich scharf und spitz wirkten. Da Tessa wusste, dass sie sich gegebenenfalls verteidigen können musste, nahm sie das Werkzeug an sich und betrat den einzigen anderen Raum, den das winzige Haus besaß: ein kleines Schlafzimmer, in dem Tessa zu ihrer Freude ein Bett mit einer muffigen Decke entdeckte.
Einen Moment schaute sie entmutigt an sich herab. Es würde ewig dauern, sich ohne Sophies Hilfe aus dem nassen Kleid zu schälen, und sie brauchte dringend Wärme. Kurz entschlossen wickelte sie sich vollständig bekleidet in die Decke und rollte sich auf dem
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