Clockwork Princess: Chroniken der Schattenjäger (3) (German Edition)
kehrtgemacht und war aus dem Raum gelaufen, weil sie es einfach nicht länger hatte mit ansehen können. Wie war es möglich, dass drei Menschen, die einander so viel bedeuteten, sich gegenseitig so viel Kummer bereiteten?
Nachdenklich legte Tessa die Bürste beiseite und betrachtete sich im Spiegel. Sie sah müde aus, mit tiefen Schatten unter den Augen – genau wie Will, der den ganzen Tag in der Bibliothek gesessen und beim Sichten von Benedicts Unterlagen geholfen hatte. Er hatte einige auf Latein, Griechisch oder Purgatisch verfasste Abschnitte übersetzt, den dunklen Kopf tief über den Tisch gebeugt, während sein Federkiel über das Papier flog. Tessa fand es merkwürdig, Will bei Tageslicht zu betrachten und gleichzeitig an den jungen Mann zu denken, der sich am Abend zuvor auf den Stufen vor Woolseys Haus an sie geklammert hatte, als wäre sie ein Rettungsfloß in stürmischer See. Wills Miene wirkte zwar nicht vollkommen ungetrübt, aber auch nicht offen oder mitteilsam. Er hatte sich ihr gegenüber weder unfreundlich noch kalt verhalten, aber auch kein einziges Mal aufgeschaut, sie über den Bibliothekstisch hinweg angelächelt oder die Ereignisse der vergangenen Nacht in irgendeiner Form angesprochen.
Tessa hatte ihn beiseitenehmen und fragen wollen, ob er irgendetwas von Magnus gehört hatte. Sie hatte ihm sagen wollen: Niemand außer mir versteht, was du empfindest, und niemand außer dir versteht, was ich empfinde. Können wir es dann nicht wenigstens gemeinsam empfinden? Aber wenn Magnus ihn kontaktiert hätte, dann hätte Will ihr das gesagt; schließlich war er ehrenhaft. Sie waren alle ehrenhaft. Wenn sie das nicht gewesen wären, überlegte Tessa und blickte auf ihre Hände, dann wäre die Situation vielleicht nicht ganz so schrecklich.
Ihr Angebot, Mortmain aufzusuchen, war natürlich dumm gewesen – das wusste sie genau. Aber der Gedanke hatte mit der Macht einer Leidenschaft von ihr Besitz ergriffen. Sie konnte doch nicht die Ursache für all dieses Elend sein, ohne zumindest den Versuch zu unternehmen, etwas dagegen zu tun! Wenn sie sich Mortmain auslieferte, dann würde Jem länger leben und er und Will hätten einander und alles wäre so, als hätte sie nie einen Fuß ins Institut gesetzt.
Doch nun, im kühlen Dunkel der Abendstunden, wurde ihr bewusst, dass nichts von dem, was sie tun konnte, die Zeit zurückdrehen oder die Gefühle zerstreuen würde, die zwischen ihnen dreien bestanden. Tessa kam sich vor wie ausgehöhlt, als würde tief in ihrem Inneren etwas fehlen, und dennoch war sie wie gelähmt. Ein Teil von ihr wollte zu Will laufen, um nachzusehen, ob seine Hände wieder verheilt waren, und um ihm mitzuteilen, dass sie ihn verstand. Doch der Rest von ihr wünschte sich nichts sehnlicher, als zu Jems Zimmer zu eilen und ihn um Verzeihung zu bitten. Bisher waren sie nicht ein einziges Mal wütend aufeinander gewesen und Tessa wusste nicht, wie sie mit einem zornigen Jem umgehen sollte. Würde er ihre Verlobung auflösen wollen? War er von ihr enttäuscht? Dieser Gedanke erschien ihr irgendwie unerträglich… die Vorstellung, dass Jem von ihr enttäuscht sein könnte.
Krrr. Tessa schaute auf und blickte sich im Zimmer um. War da nicht ein Geräusch gewesen? Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Immerhin war sie ziemlich müde – vielleicht war es Zeit, Sophie herbeizurufen, damit diese ihr beim Auskleiden half und sie sich mit einem Buch ins Bett zurückziehen konnte. Sie hatte sich Die Burg von Otranto aus der Bibliothek ausgeliehen und ein weiteres Mal festgestellt, dass das Buch hervorragend dazu geeignet war, sie auf andere Gedanken zu bringen.
Erschöpft hatte Tessa sich gerade von ihrem Stuhl erhoben, um die Dienstbotenglocke zu betätigen, als das Geräusch erneut ertönte. Dieses Mal jedoch entschlossener. Ein deutliches Krrr-Krrr an ihrer Zimmertür. Mit einem etwas beklommenen Gefühl durchquerte Tessa den Raum und riss die Tür auf.
Auf der anderen Seite hockte Church, mit gesträubtem Fell und wütender Miene. Jemand hatte ihm eine silberne Schleife um den Hals gebunden und daran einen kleinen, zusammengerollten Zettel befestigt, wie eine winzige Schriftrolle. Tessa sank auf die Knie, streckte die Hand nach der Schleife aus und löste sie, woraufhin der Kater sofort umdrehte und durch den Korridor davonschoss.
Vorsichtig hob Tessa den Zettel auf, der auf den Boden gefallen war, und entrollte ihn. Eine vertraute Handschrift wand sich quer über das Blatt
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