Clovis Dardentor
Frau Elissane und deren Tochter im Wartesaal zu-
rückzubleiben, begaben sich Clovis Dardentor mit leichtem
Schritt – wie mit dem eines Sylphs – und Herr Désirandelle
schwer nachtrampelnd nach dem Schalter für die Ausgabe
der Rundreisekarten. Hier standen in langer Reihe an die
zwanzig Reisende, ungeduldig, ihre Billetts zu erhalten.
Doch wen erblickte Herr Désirandelle sofort darunter?
Herrn Eustache Oriental in eigener Person, den Vorsitzen-
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den der Astronomischen Gesellschaft von Montélimar, mit
dem von ihm unzertrennlichen Fernrohr am Riemen. Ja,
auch dieses Original hatte sich durch den Köder einer 14tä-
gigen Reise zu ermäßigten Preisen verführen lassen.
»Wie«, brummte Herr Dardentor, »der wird auch dabei-
sein? . . . Nun, da werden wir aufpassen, daß er nicht immer
den besten Platz und die besten Stücke auf seinen Teller be-
kommt! Zum Kuckuck, erst kommen die Damen!«
Als Herr Oriental und Herr Dardentor indes vor dem
Schalter zusammentrafen, glauben sie sich doch durch ein
leichtes Nicken mit dem Kopf begrüßen zu müssen. Dann
entnahm Herr Dardentor die Billetts 1. Klasse für die Fami-
lie Elissane, die Familie Désirandelle und für sich selbst, ein
Billett 2. Klasse aber für Patrice, der sich geweigert hätte, in
der dritten zu fahren.
Bald ertönte die Glocke zum Einsteigen, die Wartesaal-
türen flogen auf und die Reisenden drängten sich auf den
Perron hinaus, neben dem der Zug wartete. Die Lokomo-
tive brummte und zitterte schon unter dem hochgespann-
ten Dampf, der zischend aus den Sicherheitsventilen her-
vordrang.
Der direkte Zug von Oran nach Algier ist immer ziem-
lich stark besetzt; wie gewöhnlich bestand er auch heute aus
einem halben Dutzend Waggons. Die Touristen sollten ihn
übrigens schon in Perregaux verlassen, um hier nach einer
Seitenlinie überzugehen, die südlich in der Richtung nach
Saïda führt.
Sechs Personen finden, bei einigem Andrang von Rei-
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senden, nicht leicht sechs freie Plätze in ein und demselben
Coupé. Zum Glück gelang es Clovis Dardentor, dem ein 2-
Franc-Stück nicht so ans Herz gewachsen war, seine kleine
Welt mit Hilfe eines Zugbeamten in einem Coupé unterzu-
bringen, dessen zwei dann noch freien Plätze auch sofort
besetzt wurden. Die Abteilung war also gefüllt. Die drei Da-
men nahmen die hintere, die drei Herren die vordere Bank
ein. Clovis Dardentor saß übrigens Louise Elissane, beide
auf den Eckplätzen, gegenüber.
Herr Eustache Oriental war nicht wieder aufgetaucht,
und niemand kümmerte sich um das drollige Männchen.
Er mochte wohl in den ersten Waggon gestiegen sein, und
auf jeden Fall würde man sein Fernrohr schon unterwegs
aus dem Fenster hervorstehen sehen.
Der erste Teil der Strecke zwischen Oran und Saint-De-
nis du Sig, wo der Fahrplan den ersten längeren Aufenthalt
angab, ist höchstens 70 Kilometer lang.
Pünktlich um 9 Uhr 5 ertönt die Schrillpfeife des Schaff-
ners, die Coupétüren werden zugeschlagen, die zweite äu-
ßere Klinke herumgelegt, ohrzerreißend pfeift die Lokomo-
tive und der Zug setzt sich rasselnd und beim Passieren der
Drehscheiben wackelnd in Bewegung.
Gleich vor der oranischen Hauptstadt trifft der Blick an
der rechten Seite auf ein Krankenhaus und einen Friedhof
. . . zwei Anlagen, die sich zwar ergänzen, doch nichts be-
sonders Anziehendes haben. Zur Linken liegen noch einige
Schiffszimmerplätze, und hinter diesen nimmt die grüne,
lachende Landschaft ihren Anfang.
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Nach dieser Seite hatten Herr Dardentor und sein gra-
ziöses Gegenüber die Aussicht. 6 Kilometer weiter, wobei
die Linie um den Morsellisee verläuft, hielt der Zug an der
Station von Senia an. Freilich konnten selbst die schärfsten
Augen diesen etwa 1200 Meter entfernt liegenden Ort kaum
entdecken, der sich an der Stelle befindet, wo sich die Land-
straße von Oran nach Mascara teilt.
Nach weiteren 5 Kilometern und nachdem man eine alte
Verschanzung Abd el Kaders zur Linken hatte liegen lassen,
folgte ein Aufenthalt in Valmy, wo die Eisenbahn die vorer-
wähnte Landstraße überschreitet.
Links erglänzt jetzt ein großer Teil des Salzsees von Se-
bgha, der schon gegen 92 Meter über dem Mittelmeer liegt.
Von ihren Eckplätzen aus konnten Clovis Dardentor und
Louise Elissane die Wasserfläche nur unvollkommen sehen.
So groß diese aber auch war, hätte sie von Jean Taconnat
doch nur einen verächtlichen Blick
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