Clovis Dardentor
erkannte.
Mehrere Tage gingen so hin, ohne daß das gegenseitige
Verhältnis der Gäste im Haus der Alten Schloßstraße eine
Änderung erfuhr.
Wiederholt nahm Frau Elissane ihre Tochter wegen der
Angelegenheit mit Agathokles ins Gebet. Als zielbewußte
Frau stellte sie ihr die Vorteile, die aus einer Verbindung
der beiden Familien entspringen mußten, vor Augen. Lou-
ise vermied es, auf das Zureden ihrer Mutter zu antworten,
die selbst wieder nichts zu antworten wußte, wenn Frau Dé-
sirandelle die Heiratsangelegenheit zur Sprache brachte.
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Daß diese keine Fortschritte machte, war ihr Fehler ge-
wiß nicht, denn sie bemühte sich nach Kräften, ihren Sohn
anzuspornen.
»Betreib die Sache doch besser!« mahnte sie ihn täglich
wohl zehnmal. »Wir sorgen ja dafür, daß ihr, du und Lou-
ise, gelegentlich allein seid; ich bin aber überzeugt, daß du
dann dastehst und aus dem Fenster starrst, statt einmal ein
Kompliment zu machen . . .«
»Doch . . . doch . . .«
»Ach was, du drehst die Zunge im Mund hin und her,
sprichst aber keine 10 Worte in 10 Minuten . . .«
»10 Minuten . . . das ist lange!«
»Bedenk doch deine Zukunft, mein Sohn!« fuhr die
trostlose Mutter fort, indem sie ihn am Ärmel seines Ja-
cketts zupfte. »Das ist doch eine Heirat, die sich ganz von
allein machen sollte, da die beiden Familien darüber einig
sind, und jetzt ist die Sache noch nicht halb geklärt . . .«
»O doch, da ich meine Zustimmung gegeben habe«, ant-
wortete Agathokles höchst naiv.
»Nein, weil Louise ihre noch nicht gegeben hat!« entgeg-
nete Frau Désirandelle.
Tatsächlich kam die Angelegenheit keinen Schritt vor-
wärts, und auch wenn sich Herr Dardentor einmischte,
konnte er doch keinen Funken aus diesem Jungen locken.
»Ein eingeweichter Kiesel, statt eines Feuersteins, der so-
fort Funken sprüht«, dachte er. »Und doch, es genügte eine
Gelegenheit . . . Freilich in diesem friedlichen Haus . . .«
Kurz, man drehte sich hier auf derselben Stelle. Zum An-
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griff schreitet man aber nur durch Vorwärtsgehen. Außer-
dem begannen die täglichen Zerstreuungen sich zu erschöp-
fen. Die Stadt hatte man bis zu den entlegensten Vororten
besucht. Jetzt kannte sie Herr Dardentor ebenso genau wie
der gelehrte Vorsitzende der Geographischen Gesellschaft
von Oran, die die bedeutendste in ganz Algerien ist. Doch
ebenso wie die Désirandelles verzweifelten, verzweifelte
auch Jean Taconnat in dieser wohlgegründeten Stadt, deren
Untergrund sich einer unerschütterlichen Ruhe erfreute,
bei der »nichts zu machen« war.
Zum Glück kam Clovis Dardentor auf eine Idee – eine
Idee, wie man sich ihrer nur von einem solchen Mann ver-
sehen könnte.
Die algerische Eisenbahngesellschaft hatte zu ermäßig-
ten Preisen eine Rundreise durch den Süden der Provinz
Oran angekündigt. Das mußte auch den schlimmsten Stu-
benhocker anlocken. Die Reise ging auf einer Strecke hin
und auf einer anderen zurück. Zwischen beiden lag eine 100
Lieues lange Tour durch herrliche Landschaften. Die ganze
Sache war in 14 Tagen abzumachen.
Auf den bunten Plakaten der Gesellschaft sah man eine
Karte des betreffenden Landesteils, den eine starke rote
Zickzacklinie durchzog. Mit der Eisenbahn sollte man nach
Tlelat, nach Saint-Denis du Sig, von da nach Perregaux und
Mascara und bis zum Endpunkt in Saïda fahren. Von hier
aus besuchte man zu Wagen oder Karawane Daya, Magenta,
Sebdou, Tlemcen, Lamoricière und Sidi-bel-Abbès und
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kehrte von letztgenanntem Ort aus auf dem Schienenweg
nach Oran zurück.
Für diese Reise schwärmte Clovis Dardentor sofort mit
der Leidenschaftlichkeit, die die unbedeutendsten Hand-
lungen des außergewöhnlichen Mannes kennzeichnete.
Er fand auch keine Schwierigkeiten, die Zustimmung der
Désirandelles zu diesem Plan zu erlangen. Die Zufälligkei-
ten der Reise, das gemeinschaftliche Leben und die kleinen
Dienste, die man sich da gegenseitig erweisen konnte, muß-
ten Agathokles doch vielfache Gelegenheit bieten, sich bei
der reizenden Louise beliebt zu machen.
Frau Elissane ließ sich freilich erst etwas bitten. Die Orts-
veränderung erschreckte sie aus dem und jenem Grund.
Versuch aber mal einer, dem Herrn Dardentor zu wider-
stehen! Die vortreffliche Dame hatte ja gesagt, daß sie ihm
nichts abschlagen könne, und jetzt erinnerte er sich an ihre
Worte. Seine angeführten Gründe gaben endlich den
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