Club Kalaschnikow
aufgelöst, und er hätte es nicht gemerkt und würde sie jetzt nie mehr wiedersehen. Sein Herz begann schmerzhaft zu pochen. Zum ersten Mal in seinem ganzen ruhigen, vernünftigen fünfunddreißigjährigen Leben konnte Pawel Dubrowin nicht mehr denken und analysieren, er fühlte nur noch: wenn er sie nicht wiedersähe, würde er sterben.
Aber da tauchte sie auf der Treppe auf und blickte sich verwirrt nach allen Seiten um. Er hupte kurz. Sie ging auf sein Auto zu.
»Wohin soll ich Sie bringen?« fragte er heiser, während er ausstieg und ihr die Tür aufhielt.
»Danke.«
Sie lächelte, verlegen und erstaunt.
»Es ist mir peinlich, Sie haben das Geld nicht genommen und meinetwegen schon soviel Zeit verloren.«
»Steigen Sie ein«, sagte er, »es regnet.«
»Ich muß zur Kropotkin-Straße. Wenn das auf Ihrem Weg liegt?«
Sie konnte sich nicht entschließen, einzusteigen.
»Ja, das liegt auf meinem Weg.«
»Aber diesmal bitte nicht umsonst«, sagte sie und nahm endlich doch noch auf dem Beifahrersitz Platz. »Sie haben mir sehr geholfen. Ich bin nämlich schon ziemlich spät dran. In einer halben Stunde muß ich auf die Bühne.«
Nachdem sie wieder bei ihm im Auto saß, wurde er etwas ruhiger.
»Bühne? Sind Sie Schauspielerin?«
»Ballettänzerin.«
»Statt mir Geld zu geben, könnten Sie mich doch ins Ballett einladen«, bat er.
»Mögen Sie Ballett?«
»Nein. Ich finde es gräßlich.«
Sie blickte ihn interessiert an. Ihr regennasses Gesicht schimmerte im Halbdunkel des Wagens. Ihre Augen wirkten riesig, fast schwarz. Pawel wagte ihr zum ersten Mal direkt in die Augen zu sehen und wußte sofort, er war verloren. Er hatte sich verliebt, endgültig und unwiderruflich.
»Haben Sie schon viele Ballettaufführungen gesehen?« fragte sie.
»Keine einzige.«
»Auch nicht im Fernsehen?«
»Im Fernsehen sehe ich mir nur die Nachrichten und alte sowjetische Filme an.«
»Dann lade ich Sie ein.«
Das Theater befand sich in einer kleinen einstöckigen Villa in einer ruhigen Seitenstraße. Sie bat ihn, in den Hof zu fahren und vor dem Diensteingang zu halten. Eine rundliche Dame in wehendem Seidenkleid stürzte ihr entgegen und schrie:
»Katja! Du bist verrückt geworden! Was ist passiert?«
»Wika, reg dich nicht auf. Ich schaff ’s noch. Bitte setz diesen jungen Mann auf einen guten Platz. Ohne ihn wäre ich verloren gewesen. Mir ist das Auto geklaut worden.«
»Was? Wie entsetzlich! Warst du bei der Miliz? Ich hab einen Bekannten bei der Verkehrspolizei, wenn man den ordentlich schmiert, finden sie die Diebe bestimmt«, plapperte die Dame.
Sie rannten einen langen, staubigen, halbdunklen Flur hinunter, der mit riesigen bemalten Pappen vollgestellt war. An ihnen vorbei liefen Leute mit geschminkten Gesichtern und in sonderbaren Kostümen. Katja steckte Dubrowin irgendwelche zerknüllten Scheine in die Hand und verschwand gleich darauf in der Maske.
Eine quäkende Lautsprecherstimme verkündete:
»Achtung! Letzter Aufruf! Die Künstler bitte auf die Bühne!«
Pawel öffnete seine Faust. Geld, wie er vermutet hatte. Mehrere Zehntausendscheine. Ein ausgezeichneter Vorwand, um sie nach der Aufführung abzupassen.
»Kommen Sie!« Die Dame nickte ihm zu.
Eine Minute später saß er in dem kleinen, gut gefüllten Zuschauersaal. Das Licht war schon erloschen, das Orchester spielte die Ouvertüre. Es war eine unbekannte, moderne Musik, von der Pawel sofort Kopfschmerzen bekam.
»Einen Moment!« Er hielt die rundliche Dame am Arm fest. »Wo finde ich Katja nach der Aufführung?«
»Am Diensteingang«, flüsterte die Dame ärgerlich und huschte davon.
Pawel sah auf die Bühne. Es gab keinen Vorhang, nur schwarze Leere und im Zentrum ein beleuchtetes unförmiges Objekt aus Folie und Draht. Das Orchester heulte lauter auf, der Lärm wurde unerträglich. Auf der Bühne erschienen neben der unverständlichen Drahtkonstruktion zwei junge Männer in schwarzen Trikots. Zu sehen waren nur ihre weißen Gesichter und Hände.
Ein Geigensolo jaulte auf, und gleißendes Licht erhellte die Bühne. Pawel tränten die Augen, und er bekam Mitleid mit den Tänzern, die zu solcher Musik und bei so scheußlicherBeleuchtung noch scheußlichere Tänze aufführen mußten.
Katja tanzte die Hauptrolle, flog in einem Kostüm aus blauen, glänzenden Fetzen über die Bühne, mit aufgelösten Haaren. Er sah sofort, daß sie eine ausgezeichnete Tänzerin war. Aber das Ballett selbst fand er fürchterlich.
Katja wunderte sich
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