Cobra
wie Priesly und seine Verbündeten das bezeichnen würden. »Danke«, meinte er zu Justin und legte die Karte neben sein Lesegerät. »Aber wahrscheinlich werde ich erst Zeit finden, einen Blick daraufzuwerfen, wenn alle anderen aus dem Rat ihre Kopien erhalten haben.«
Justins Stirn legte sich leicht in Falten. »Ach ja? Na ja, der Vorschlag wird wohl kaum sehr viel Staub aufwirbeln, fürchte ich. Wir planen, die Negativquote nach der Operation von sieben auf vielleicht vier, viereinhalb Prozent zu senken.«
Corwin nickte ernst. »Ungefähr das, was wir erwartet hatten. Keine Chance, noch mehr rauszuholen?«
Justin schüttelte den Kopf. »Die Psycholeute sind nicht einmal sicher, ob wir überhaupt das schaffen. Das Problem ist der Einbau der Cobra-Ausrüstung … der verändert die Leute manchmal.«
»Ich weiß. Vermutlich ist es besser als gar nichts.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Corwins Blick wanderte aus dem Fenster zu der Silhouette von Capitalia. Die Stadt hatte sich in den sechsundzwanzig Jahren, seit er sich in diesen Irrgarten begeben hatte, aus dem die Politik der Cobra-Welten bestand, sehr verändert. Unglücklicherweise hatten sich andere Dinge noch mehr verändert als die Silhouette der Stadt. In letzter Zeit ertappte er sich oft dabei, wie er lange aus ebendiesem Fenster starrte und versuchte, das Gefühl der Herausforderung und die Aufregung zurückzugewinnen, die er einst für
seinen Beruf empfunden hatte. Doch die Rückbesinnung auf die Anfänge half nur selten. Eine solch angespannte Gereiztheit, wie sie, möglicherweise unter dem Druck von Prieslys öffentlicher Verbitterung, in die Politik der Cobra-Welten Einzug gehalten hatte, war Corwin bislang fremd gewesen. Das hatte ihm in mancher Hinsicht die Lust verdorben – und sowohl seine Siege wie seine Niederlagen in ein gleichförmiges, bittersüßes Grau getaucht. In seinem Amt als Gouverneur musste er immer häufiger harte Kämpfe ausfechten, anstatt sich darum zu kümmern, den Fortschritt seiner Welten zu fördern.
Das brachte ihm seinen Vater in Erinnerung, dem die Politik in seinem Leben gleichermaßen übel aufgestoßen war, und immer öfter ertappte er sich in diesen Tagen dabei, wie er davon träumte, den ganzen Kram hinzuschmeißen und sich nach Esquiline oder auf eine der anderen neuen Welten abzusetzen.
Aber das war unmöglich, wie er nur zu gut wusste. Solange die hohen Erwartungen der Jects die Grundfesten der Sicherheit und des Überlebens der Cobra-Welten bedrohten, musste jemand hierbleiben und kämpfen. Und ihm war längst klargeworden, dass dieser Jemand er war.
Auf der anderen Seite des Schreibtisches setzte sich Justin in seinem Sessel zurecht und unterbrach damit seine Grübeleien. »Ich nehme an, du hattest einen besonderen Grund, weshalb du mich hergebeten hast?«, erkundigte sich Justin vorsichtig.
Corwin holte tief Luft. »Ja, den hatte ich. Vor drei Tagen habe ich über Koordinator Maung Kha von Jins Bewerbung an der Akademie erfahren. Er hat …« Er zögerte, versuchte einen Weg zu finden, es so zu sagen, dass es nicht schmerzte.
»Sie einfach abgelehnt?«, schlug Justin vor.
Corwin gab sich geschlagen. »Sie hatte keine Chance«, sagte er mit schonungsloser Offenheit, wobei er sich zwang, seinem Bruder gerade in die Augen zu sehen. »Das hätte dir von Anfang an klar sein müssen. Du hättest erst gar nicht zulassen dürfen, dass sie die Bewerbung einreicht.«
Justin zuckte nicht mit der Wimper. »Du meinst also, man sollte erst gar nicht versuchen, gegen ein unfaires Verfahren vorzugehen, nur weil es eben immer schon so gemacht wurde?«
»Komm schon, Justin – schließlich unterrichtest du dort, Herrgott nochmal. Du weißt, wie zäh Traditionen sind. Besonders beim Militär.«
»Ich weiß auch, dass diese Traditionen im Alten Imperium der Menschen ihren Ursprung haben«, konterte Justin. »Und in keinem anderen Bereich haben wir die dortigen Methoden blind übernommen. Wieso ausgerechnet beim Militär?«
Corwin seufzte. Die Familie der Moreaus hatte – in unterschiedlichster Zusammensetzung – dieses Thema während der letzten Jahre Dutzende Male in der einen oder anderen Form durchgekaut – seit Justins jüngste Tochter beschlossen hatte, dass sie in die Fußstapfen ihres Vater treten und Cobra werden wollte. Wie vor ihm Justins Vater … und Corwin war sich durchaus darüber im Klaren, dass Familientraditionen, zumindest bei den Moreaus, nicht auf die leichte Schulter genommen
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