Cobra
gehört auf Aventine schon lange zu den bedeutenden«, erinnerte er sie und nahm einen Schluck. »Vielleicht haben sogar die Raubgierigeren unter den Zeitungsschreibern kapiert, dass diese Familie ein wenig Respekt verdient hat.«
»Und vielleicht auch ein wenig Ruhe?«, meinte Thena leise.
Corwin sah sie an, folgte mit den Augen den Linien ihrer feinen Gesichtszüge und ihres schlanken Körpers. Er verspürte einen Stich im Herzen, ein Gefühl von Melancholie und Verlorenheit, ein Gefühl, das ihn in letzter Zeit immer häufiger heimsuchte. Ich hätte heiraten sollen, überlegte er müde. Eine Familie gründen.
Er schüttelte den Gedanken mit Mühe ab. Es hatte gute und gewichtige Gründe für seine Entscheidung vor vielen Jahren gegeben, und an keinem dieser Gründe hatte sich etwas geändert. Dass sein Vater sich so lange der Politik gewidmet hatte, hatte seine Mutter fast zugrunde gerichtet, und er hatte sich geschworen, niemals einem anderen Menschen etwas Vergleichbares anzutun. Selbst wenn er eine Frau fände, die bereit wäre, ein solches Leben in Kauf zu nehmen …
Wieder zwang er seine Gedanken, diesen oft beschrittenen und fruchtlosen Gedankenweg zu verlassen. »Die Moreaus waren nie dafür bekannt, die Hände in den Schoß zu legen, wenn es Arbeit gibt«, erklärte er Thena. »Außerdem kann ich mich nächstes Jahr ausruhen. Aber Sie sollten jetzt wirklich nach Hause gehen.«
»Vielleicht in ein paar Minuten.« Thena deutete mit einem Nicken auf das Fon. »Wie ging’s mit den Anrufen?«
»Ungefähr wie zu erwarten war. Alle sind ein wenig unsicher, wie sie die Sache handhaben sollen, zumindest, wie sie politisch damit umgehen sollen. Ich vermute, dass sie sich im Augenblick bedeckt halten und weitere Informationen abwarten.«
»Und Priesly freie Hand lassen, ihnen seine Version morgen in die Köpfe zu pflanzen.« Sie schnaubte leise. »Ungewöhnlich
gutes Timing von ihm, dass er all das kurz vor einer Sitzung des Direktorats über die Bühne gehen lässt.«
Corwin nickte. »Ja, das ist mir ebenfalls schon aufgefallen. Und ich bin sicher, den anderen Gouverneuren ebenfalls. Leider zählt das nicht gerade als Beweis.«
»Es sei denn, Sie könnten daraus eine Verbindung herstell…«
Sie brach unvermittelt ab, legte den Kopf schief und lauschte angestrengt. »Hat es da geklopft?«
Corwin beugte sich stirnrunzelnd nach vorn und rief per InterKom das Bild einer Sicherheitskamera des Außenkorridors ab. »Wenn es ein Zeitungsmensch ist …«, begann Thena, nichts Gutes ahnend.
»Es ist Jin«, seufzte Corwin, tippte auf das InterKom und den Türöffner. Mit Abstand die letzte Person, der gegenüberzutreten er sich im Augenblick imstande fühlte … »Jin? Die Tür ist auf – komm rein.«
»Soll ich Sie allein lassen?«, fragte Thena, als er das InterKom abschaltete.
»Eigentlich nicht«, gestand er, »aber es wäre wahrscheinlich besser so.«
Die Andeutung eines Lächelns huschte über Thenas Gesicht, während sie sich erhob. »Verstehe. Ich bin im Vorzimmer, wenn Sie mich brauchen.« Sie berührte ihn kurz an der Schulter, als sie vorüberging, dann war sie auf dem Weg zur Tür.
»Onkel Corwin?«
»Komm rein«, rief Corwin und winkte dem Mädchen – nein, sie ist inzwischen eine junge Frau -, das in der Tür stand.
Jin trat ein und wechselte einen kurzen Gruß mit Thena, als die beiden Frauen sich in der Tür begegneten. »Setz dich«, lud Corwin sie ein und deutete mit der Hand auf den Sessel, aus dem sich Thena gerade erhoben hatte. »Wie geht’s deinem Dad?«
»Ungefähr so, wie man es erwarten würde«, sagte sie und sank in den Sessel. »Onkel Joshua hat vor einer Weile reingeschaut, und sie haben lange über die Schwierigkeiten geredet, die die Familie in der Vergangenheit hatte.«
Corwin nickte. »Ich kann mich an ähnliche Ausflüge in alten Zeiten erinnern. War wahrscheinlich ziemlich deprimierend, sich das anzuhören?«
Sie schürzte die Lippen. »Ein bisschen.«
»Lass dich davon nicht unterkriegen. Das gehört zu den Methoden, mit denen wir Moreaus uns traditionell daran erinnern, dass sich für gewöhnlich alles zum Besten wendet.«
Jin holte tief Luft. »Wie Dad mir gesagt hat, wurde meine Bewerbung bei der Cobra-Akademie abgelehnt.«
Corwins Kiefermuskeln spannten sich. Mit einer bewussten Anstrengung löste er sie. »Hat er dir auch gesagt, warum?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben eigentlich gar nicht groß darüber gesprochen – er hatte andere
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