Cobra
Töchter bei Aimees Beerdigung …
Mit Mühe riss er sich aus diesen Gedanken in die Gegenwart zurück. Jin saß immer noch vor ihm und kontrollierte die wilde Enschlossenheit in ihrem Gesicht durch eine Selbstbeherrschung, wie man sie bei Zwanzigjährigen selten antraf. Eines der Hauptkriterien, an dem alle Cobra-Bewerber gemessen wurden, wie er sich schwach erinnerte … »Hör zu, Jin«, seufzte er. »Die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, dass ich überhaupt nichts tun kann, um die Entscheidung der Akademie zu beeinflussen. Aber … ich werde sehen, was sich machen lässt.«
Der Anflug eines Lächelns machte sich auf Jins Lippen breit. »Danke«, sagte sie ruhig. »Ich würde dich nicht fragen, wenn es nicht wegen Dad wäre.«
Er blickte ihr direkt in die Augen. »Doch, das würdest du«, sagte er. »Versuch nicht, einen alten Politiker hinters Licht zu führen, Mädchen.«
Sie hatte den Anstand, rot zu werden. »Du hast Recht«, gab sie zu. »Ich will eine Cobra werden, Onkel Corwin. Mehr als alles andere, was ich mir je gewünscht habe.«
»Ich weiß«, sagte er leise. »Also. Du solltest jetzt besser wieder nach Hause gehen. Sag deinem Vater … grüß ihn einfach von mir, und ich würde mich wegen dieser Sache bei ihm melden.«
»Mach ich. Gute Nacht … Und danke.«
»Schon in Ordnung.«
Sie ging, und Corwin seufzte. Das alte Huhn-Ei-Problem, dachte er. Was war zuerst da, ihr Wunsch, eine Cobra zu werden, oder die Liebe für ihren Vater?
Und machte das überhaupt einen Unterschied?
Thena erschien wieder in der Tür. »Alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich.
»Aber ja«, knurrte er. »Ich habe gerade versprochen, mit Anlauf und gesenktem Kopf gegen die Wand zu rennen, das ist alles. Wie gerate ich nur immer in so etwas hinein?«
Sie lächelte. »Bestimmt, weil Sie Ihre Familie lieben.«
Er versuchte sie wütend anzusehen, schon aus Prinzip, aber die Anstrengung war zu groß. »Bestimmt«, gab er zu und erwiderte ihr Lächeln. »Los machen Sie schon, verschwinden Sie endlich.«
»Wenn Sie ganz sicher sind …?«
»Bin ich. Ich brauche selbst nur noch ein paar Minuten.«
»Also gut. Dann bis morgen früh.«
Er wartete, bis er hörte, wie sich die äußere Bürotür hinter ihr schloss. Dann beugte er sich mit einem Seufzer wieder über sein Lesegerät, programmierte es auf das InfoNet und sein privates interaktives Programm. Irgendwo, irgendwie musste es eine Verbindung zwischen Baram Monse und Gouverneur Harper Priesly geben.
Und er würde sie finden.
42
Die Sitzung des Direktorats begann um Punkt zehn am nächsten Morgen … und war genauso schlimm, wie Corwin erwartet hatte.
Priesly war in Hochform, seine Schmährede umso eindrucksvoller, weil sie kurz war. Ein weniger begabter Politiker hätte vielleicht übertrieben und seine Zuhörer am Ende gelangweilt, Priesly umging diese Fußangel mit Leichtigkeit. Vor dem versammelten Rat mit seiner erheblich höheren Anzahl Mitglieder konnte man emotionale/politische Stürme entfesseln und wüten lassen. Dort waren langatmige Reden häufig von großer Wirkung. Vor dem neunköpfigen Direktorat ging so etwas nicht nach hinten los, nicht zu reden davon, dass es gelegentlich geradezu albern wirkte. Trotzdem hatte Corwin darauf gehofft, Priesly würde es dennoch versuchen und sich dabei sein eigenes Grab schaufeln.
Er hätte es besser wissen müssen.
»… und deshalb hat meinem Empfinden nach dieses Gremium die Pflicht , das gesamte elitäre Konzept, für das die Cobras und die Cobra-Akademie stehen, einer erneuten Prüfung zu unterziehen«, schloss Priesly. »Nicht nur der Bevölkerung von Aventine und den angeschlossenen Welten zuliebe, sondern auch wegen der Cobras selbst. Bevor es zu einer weiteren Tragödie wie dieser kommt. Ich danke Ihnen.«
Er setzte sich. Corwin ließ den Blick in die Runde schweifen, während er die Mienen der anderen registrierte, verstärkte sich jene Resignation noch, die er in letzter Zeit immer häufiger verspürte. Die Meinungen gingen nach dem üblichen und vorhersehbaren Schema auseinander: Rolf Atterberry von Palatine stand fest auf Prieslys Seite, Fenris Vartanson aus Caelian – selbst ein Cobra – und Gouverneurin a. D. Lizabet Telek standen auf seiner, Corwins; die anderen neigten mal hier, mal dorthin, waren aber noch nicht bereit, sich festzulegen.
Am Kopfende der Tafel räusperte sich Generalgouverneur Chandler. »Mr. Moreau, haben Sie irgendetwas dagegen vorzubringen?«
Mit anderen Worten: Hatte
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